Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen lehnte jetzt eine weitere Anhebung des Grades der Behinderung (GdB) und das begehrte Merkzeichen G ab. Der Kläger steigerte seinen Gesamt GdB zwar von 60 auf 70, scheiterte aber mit dem Ziel, rückwirkend 80 Prozent und eine unentgeltliche ÖPNV-Nutzung zu erhalten. Der Fall zeigt plastisch, worauf es in Widerspruchs und Klageverfahren ankommt: belastbare Befunde, aktive Mitwirkung – und ein realistischer Blick auf die eigenen Chancen.
Inhaltsverzeichnis
Warum dieser Fall wichtig ist
Viele Leserinnen und Leser kämpfen gerade darum, dass Ämter Verschlechterungen anerkennen. Die Entscheidung vom 16. Januar 2025 vermittelt drei zentrale Botschaften:
- Ohne persönliche Gutachteruntersuchung sinken die Erfolgschancen drastisch.
- Widersprüchliche Befundberichte führen oft zum Vorwurf der Simulation.
- Ein höherer GdB allein genügt nicht für das Merkzeichen G; entscheidend ist der Nachweis einer erheblichen Gehbehinderung.
Der Streit in Kürze
Der heute 61-jährige Kläger litt unter psychischen Störungen, Rückenleiden, Seh- und Hörproblemen. Er beantragte 2017 eine GdB-Erhöhung auf mindestens 80 Prozent sowie die Merkzeichen G, RF und Gl. Die Behörde bewilligte 60 Prozent.
Vor Gericht forderte der Mann mehr – ignorierte aber mehrere Termine bei neutralen Sachverständigen. Die Richter stützten sich deshalb auf die Aktenlage. Ergebnis: Seit Februar 2021 wurde ein GdB von 70 akzeptiert, mehr jedoch nicht. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Mobilität ließen die Unterlagen nicht erkennen; somit blieb das Merkzeichen G verwehrt.
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Mitwirkungspflicht: Eigenes Nichterscheinen kann teuer werden
Rechtsmittel lohnen nur, wenn Betroffene aktiv mitarbeiten. Dazu gehören:
- vollständige Unterlagen aller Fachärztinnen und Fachärzte,
- Teilnahme an Begutachtungen (bei Bedarf Taxikosten beantragen),
- schnelle Mitteilung neuer Befunde an die Behörde.
Im entschiedenen Fall sah das Gericht „keine belastbaren Fakten“ für eine weitergehende Seh- oder Geheinschränkung, weil der Betroffene weder zur Untersuchung erschien noch plausible Gründe nachwies. Die Richter durften deshalb nach § 62 SGG ausbleibende Mitwirkung zu seinen Lasten werten.
GdB-Berechnung: kleiner Sprung, große Wirkung
Jede Zehnersprosse zählt. Ein Schritt von 60 auf 70 kann Steuer- und Ticketvergünstigungen auslösen; die Schwelle von 80 eröffnet weitere Nachteilsausgleiche, etwa die unentgeltliche Beförderung im Fernverkehr (bei „B“Merkzeichen). Das Gericht prüft drei Stufen:
- Einzel-GdB für jede Funktionsbeeinträchtigung,
- Zusammenfassung zu einem Gesamt-GdB,
- Abgleich mit den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen.
Im aktuellen Urteil bewerteten die Richter die psychische Erkrankung weiterhin mit 40 Prozent, Rücken und Gehör je 20 Prozent, Auge lediglich 10 Prozent – zu wenig, um von 70 auf 80 zu springen.
Merkzeichen G: hohe Hürde trotz Rollator
Wer kostenlos oder ermäßigt Bus und Bahn fahren möchte, benötigt das Merkzeichen G (oder aG). Voraussetzung: erhebliche Gehbehinderung, in der Regel weniger als zwei Kilometer Fußweg oder schwere koordinative Probleme. Rückenschmerzen, Angststörung oder unspezifische Atemnot reichen selten aus; objektive Nachweise wie gangkinetische Analysen, Lungenfunktionstests oder neurologische Befunde sind nötig. Im verhandelten Verfahren fehlten solche Belege.
Fünf Praxistipps für ein erfolgreiches Änderungsverfahren
- Verschlechterung sofort melden. Der höhere GdB gilt frühestens ab Antragsdatum.
- Gutachtertermine wahrnehmen. Bei Reiseproblemen, Fahrdienst oder Kostenerstattung beantragen.
- Befunde konsistent halten. Unterschiede in Audiogrammen oder Gesichtsfeldmessungen erklären, sonst droht der Verdacht der Übertreibung.
- Zweitgutachten sichern. Wer Einschätzungen des Amtsarztes anzweifelt, organisiert eine fundierte Gegenexpertise – idealerweise sozialmedizinisch.
- Merkzeichen separat begründen. Das Formular „Schutz vor Gebühr“ reicht nicht; erläutern Sie konkret, welche Strecke Sie maximal bewältigen.
Kostenrisiko nicht unterschätzen
Das Gericht auferlegte dem Kläger trotz teilweisen Erfolgs seine kompletten außergerichtlichen Kosten. Begründung: Das neue Teilanerkenntnis basierte nicht auf überzeugenden Nachweisen, sondern auf „wohlwollender Wertung“. Wer unsichere Verfahren führt, sollte daher Rechtsschutzversicherung oder Beratungshilfe prüfen.