Ein 52-jรคhriger Lagerist mit Asthma, Epilepsie, Diabetes, Schlafapnoe und Depression erhรคlt keine Erwerbsminderungsrente. Nach รberzeugung des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Wรผrttemberg kann er leichte, stressarme Tรคtigkeiten weiterhin mindestens sechs Stunden tรคglich ausรผben.
Fรผr Betroffene zeigt das Urteil: Ohne konsistente, aktuelle Befunde und ausgeschรถpfte Therapien bleiben selbst mehrere Diagnosen ohne Rentenwirkung. (Az. L 4 R 2526/24)
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund des Verfahrens
Der Klรคger, Jahrgang 1972, war jahrelang als Lagerist tรคtig. Nach lรคngerer Arbeitsunfรคhigkeit lebte er von Krankengeld und danach von Arbeitslosengeld, seit Oktober 2023 bezieht er Bรผrgergeld. Zwei stationรคre Rehaeinrichtungen schรคtzten sein Restleistungsvermรถgen vollkommen unterschiedlich ein: Die pulmologische Reha kam 2021 auf โรผber sechs Stundenโ, die psychosomatische Reha 2022 auf โunter drei Stundenโ tรคglich.
Die Deutsche Rentenversicherung lieร deshalb Zusatzgutachten erstellen. Ein unabhรคngiger Psychiater bestรคtigte: Epilepsie seit 2020 anfallsfrei, Depression leichtgradig, keine schwerwiegende neurokognitive Stรถrung, Organerkrankungen unter Therapie stabil.
Ergebnis: Der Mann kรถnne trotz qualitativer Einschrรคnkungen (kein Akkord, kein Schichtdienst, kein Leiter- oder Maschineneinsatz) grundsรคtzlich sechs Stunden pro Tag arbeiten.
Die Rentenversicherung lehnte den Antrag ab, das Sozialgericht folgte, das LSG ebenso. Das Gericht betonte: ยง 43 SGB VI knรผpft ausschlieรlich an die quantitative Leistungsfรคhigkeit unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts an. Wer dauerhaft mindestens sechs Stunden einsatzfรคhig bleibt, ist rechtlich nicht erwerbsgemindert, unabhรคngig von der aktuellen Arbeitsmarktlage.
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Warum mehrere Diagnosen nicht genรผgt haben
Die Entscheidung zeigt ein hรคufiges Missverstรคndnis. Viele Antragstellende gehen davon aus, dass die Anzahl ihrer Krankheiten ausschlaggebend sei. Tatsรคchlich prรผfen Rentenrichter drei Punkte:
Erstens: muss die Funktionsstรถrung objektiv nachweisbar sein. Im vorliegenden Fall bestรคtigten Laborwerte, Bildgebung und Anfallsprotokolle gerade keinen aktuellen Anfallsindex und keine relevante Hypoxรคmie trotz Asthma.
Zweitens; muss der Zusammenhang zwischen Krankheit und Arbeitsfรคhigkeit sauber hergeleitet sein. Die psychosomatische Reha stรผtzte sich stark auf subjektive Klagen รผber Konzentrationsschwรคchen, ohne Validierungstests einzusetzen. Das spรคtere Sachverstรคndigengutachten nutzte hingegen moderne Symptom-Validierungsverfahren und fand deutliche Hinweise auf รbertreibung.
Drittens: muss die Einschrรคnkung auf โnicht absehbare Zeitโ bestehen. Im Gesetz reicht dafรผr eine Sechs-Monats-Prognose. Weil die Epilepsie seit fรผnf Jahren anfallsfrei ist, behandelt das Gericht sie als kontrolliert und damit nicht prognostisch belastend.
Das sozialmedizinische Dilemma widersprรผchlicher Reha-Berichte
Rehaeinrichtungen arbeiten mit unterschiedlichen Zielsetzungen: Die eine Klinik soll kรถrperlich stabilisieren, die andere psychosozial entlasten. Bewertungsmaรstรคbe, Tests und Beobachtungszeitrรคume variieren. Fรผr den Prozess gilt jedoch der Grundsatz der aktuellsten und methodisch besten Quelle. Wer eine Rente erreichen will, benรถtigt daher ein durchgรคngiges, fachรผbergreifend abgestimmtes Arztbild.
Fehlen solche Harmonisierungsschritte, entsteht vor Gericht der Eindruck einer unsicheren Befundlage. Das LSG wies ausdrรผcklich darauf hin, dass es nicht Aufgabe der Kammer sei, โErmittlungen ins Blaue hineinโ anzustellen. Damit lรคdt es die Versicherten zu mehr Eigeninitiative ein: Befunde sammeln, Widersprรผche aktiv ausrรคumen, therapeutische Erfolge oder Rรผckschlรคge dokumentieren.
Vier praxisnahe Schritte fรผr einen stรคrkeren E-Mail-Antrag
- Alle Behandler zusammenbringen. Vereinbaren Sie eine Fallkonferenz oder tauschen Sie Berichte aus, damit Diagnosecodes, Schweregrad und Prognose รผbereinstimmen.
- Therapie maximal ausschรถpfen. Medikamente konsequent nehmen, Reha-Empfehlungen umsetzen, psychotherapeutische Sitzungen besuchen. Unbehandelte Leiden gelten vor Gericht als potenziell verbesserbar โ und damit nicht rentenrelevant.
- Befundmappe fรผhren. Sortieren Sie Laborblรคtter, Arztbriefe, Reha-Entlassungsberichte und Bildgebung chronologisch. Ein lรผckenloser Verlauf macht die Dynamik der Erkrankung sichtbar und erspart Gutachtern Nachforschungen.
- Funktionseinschrรคnkungen quantifizieren. Halten Sie in einem einfachen Tagesprotokoll fest, wie lange Sie gehen, sitzen, konzentriert lesen oder eine Tรคtigkeit ohne Pause ausรผben kรถnnen. Lassen Sie diese Angaben regelmรครig รคrztlich gegenzeichnen.
Ein einzelner A4Ordner mit klarer Registerstruktur erhรถht die Glaubwรผrdigkeit enorm โ das bestรคtigen Sozialverbรคnde immer wieder.
Fristen und Rechtsweg im Blick behalten
Ein Rentenablehnungsbescheid enthรคlt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Innerhalb eines Monats muss der schriftliche Widerspruch bei der Rentenversicherung sein, sonst wird der Bescheid bestandskrรคftig. Wird auch der Widerspruch zurรผckgewiesen, bleiben drei Monate fรผr die Klage zum Sozialgericht. Kรถnnen Sie diese Fristen wegen Krankheit oder Klinikaufenthalt nicht einhalten, beantragen Sie sofort nach Kenntnis โWiedereinsetzung in den vorigen Standโ und legen ein Arztattest bei.
Bรผrgergeld, Arbeitsmarkt und Zumutbarkeiten
Der Klรคger sitzt nun weiter im Bรผrgergeldsystem fest. Das Jobcenter darf ihn allerdings nur auf leidensgerechte Stellen verweisen. Die aktuelle Fachanweisung der Bundesagentur fรผr Arbeit definiert leichte Tรคtigkeiten als solche ohne stรคndiges Heben รผber zehn Kilogramm, ohne extreme Hitze, Kรคlte oder Schichtarbeit. Kommt das Jobcenter hiervon ab, kรถnnen Sie einen รberprรผfungsantrag stellen. Das Urteil hilft dabei: Es listet alle anerkannten Einschrรคnkungen auf und grenzt zugleich gefรคhrliche Arbeiten aus.
Kostenfreie Unterstรผtzung
Beratung ist fรผr viele Betroffene ein Game-Changer. Der bundesweite Sozialverband VdK vertritt Mitglieder im Widerspruchs- und Klageverfahren und รผbernimmt bei Bedarf sogar die Prozessvertretung.
Die EUTB-Stellen beraten unabhรคngig zu Reha- und Teilhaberechten. Wer sich online informieren mรถchte, findet im Forum von Tacheles e. V. praxisnahe Erfahrungspools und Musterschreiben. Auch regionale Erwerbslosenยญinitiativen bieten oft kostenlose Anwaltsยญsprechstunden an.
Dokumentation schlรคgt Diagnosefรผlle
Das LSG-Urteil macht unmissverstรคndlich klar: Entscheidend ist nicht, wie viele Krankheiten jemand hat, sondern welchen messbaren Einfluss sie auf die tรคgliche Arbeitszeit haben und ob sรคmtliche Therapieoptionen ausgereizt sind. Ein konsistentes, fachรผbergreifendes Befundbild mit klaren Funktionsยญeinschrรคnkungen ist die hรคrteste Wรคhrung im Rentenverfahren.
Wer seinen EM-Antrag vorbereitet, sollte deshalb frรผh beginnen, Befunde zu harmonisieren, Therapien lรผckenlos zu belegen und jede Frist genau zu monitoren. Nur so kann vermieden werden, dass die Rente wie im aktuellen Fall an widersprรผchlichen Gutachten scheitert und das Jobcenter weiter das Sagen hat.




