Schwerbehinderung: LSG stoppt Fristfalle: Falsche Belehrung verlängert Klagefrist auf 1 Jahr

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Wer im Schwerbehindertenrecht um GdB oder Merkzeichen kämpft, scheitert oft an Formalien. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (06.08.2024, L 11 SB 274/23) setzt hier eine klare Marke: Enthält die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids zur elektronischen Klageeinreichung irreführende oder unvollständige Hinweise, gilt nicht die Monatsfrist – sondern die Jahresfrist. Das kann vermeintlich „verspätete“ Klagen retten und Verfahren in der Sache zurück auf die Spur bringen.

Der Fall in Kürze

Eine Frau beantragte einen GdB 100 und das Merkzeichen aG. Die Behörde erhöhte den GdB zwar, lehnte aG aber ab. In der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids stand zur elektronischen Klageeinreichung De-Mail als sicherer Übermittlungsweg – weitere mögliche Wege fehlten.

Das Sozialgericht wies die Klage später als „zu spät“ ab. Das LSG hob diese Entscheidung auf und verwies zurück. Begründung: Die Belehrung war unvollständig und damit irreführend.

Worum es rechtlich geht

Elektronische Klagen können entweder qualifiziert elektronisch signiert eingereicht werden oder über „sichere Übermittlungswege“ nach § 65a Abs. 4 SGG. Dazu zählen für Betroffene u. a. das eBO (elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach) und der OZG-Nutzerkonto-Weg; bei anwaltlicher Vertretung das beA.

Wird in der Belehrung nur ein einzelner Weg (z. B. De-Mail) genannt, entsteht der falsche Eindruck, es gebe ausschließlich diese Option. Die Belehrung ist dann nicht richtig, nicht vollständig und missverständlich. Folge: Die reguläre Monatsfrist nach § 87 SGG läuft nicht an; stattdessen greift die Jahresfrist aus § 66 Abs. 2 SGG.

Was das Urteil für Schwerbehinderte konkret bedeutet

Mehr Zeitreserve: Wer vermeintlich zu spät Klage erhoben hat, kann sich auf die Jahresfrist berufen, wenn die Belehrung im Widerspruchsbescheid die elektronischen Wege verkürzt darstellt.
Schutz für Unvertretene: Besonders hilfreich für Menschen, die ohne Anwalt klagen.

Sie dürfen von der Behörde eine korrekte Wegweisung erwarten.
Signal an Behörden: Standardtexte in Bescheiden sollten die elektronischen Einreichungswege generisch richtig wiedergeben (z. B. „sichere Übermittlungswege gemäß § 65a Abs. 4 SGG“) – nicht nur De-Mail.

So prüfen Sie Ihre Unterlagen

  1. Widerspruchsbescheid zur Hand nehmen. Prüfen Sie die Rechtsbehelfsbelehrung am Ende des Bescheids.
  2. Auflistung der elektronischen Wege lesen. Steht dort nur De-Mail? Fehlen allgemeine Hinweise auf „sichere Übermittlungswege nach § 65a Abs. 4 SGG“ oder verständliche Alternativen wie eBO/OZG-Nutzerkonto?
  3. Frist neu bewerten. Bei unvollständiger Belehrung gilt die Jahresfrist ab Zugang des Widerspruchsbescheids.
  4. Belege sichern. Umschlag, Datum der Postaufgabe, Notizen zum Zugangsdatum, Scan der Belehrung – alles ablegen.

Beispiel aus der Praxis

Sie erhielten einen Widerspruchsbescheid am 17.07.2022. Die Klage ging erst am 24.04.2023 beim Sozialgericht ein. Laut Monatsfrist wäre das zu spät. Ist die Belehrung aber unvollständig, liegt die Klage innerhalb eines Jahres und ist zulässig. Das Gericht muss dann in der Sache prüfen – etwa zu GdB und Merkzeichen.

Grenzen der Entscheidung

Das LSG hat keine medizinische Festlegung getroffen. Es geht nicht darum, ob GdB 100 oder aG vorliegen. Das Gericht hat lediglich die Zulässigkeit der Klage bejaht und an das Sozialgericht zurückverwiesen. Auch bedeutet das Urteil nicht, dass jede Belehrung falsch ist. Eine Belehrung kann knapp sein – sie darf nur nicht irreführend sein und muss die elektronische Einreichung zutreffend umrissen.

Häufige Fragen – knapp beantwortet

Gilt das nur in Berlin-Brandenburg?
Das Urteil stammt von dort, stützt sich aber auf bundesrechtliche Regeln und höchstrichterliche Maßstäbe. Es ist daher argumentativ bundesweit nutzbar.

Reicht ein Link auf Gerichtsinfos?
Ein allgemeiner Hinweis auf „sichere Übermittlungswege gemäß § 65a Abs. 4 SGG“ und weiterführende Gerichtsinformationen ist in Ordnung. Entscheidend ist, dass kein falscher Eindruck entsteht, es gebe nur einen Weg.

Was, wenn die Jahresfrist auch abgelaufen ist?
Dann bleibt nur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – dafür braucht es unverschuldete Hinderungsgründe und zügiges Handeln. Das ist strenger und unsicherer.

Fristfalle umgehen: Belehrung prüfen, Jahresfrist nutzen, Klage sofort einreichen

Blick auf den Abschnitt zur elektronischen Klage. Ergibt sich daraus ein verkürzter oder irreführender Hinweis (etwa nur De-Mail), sollten Sie die Fristen neu kalkulieren: Liegt der Eingang Ihrer Klage innerhalb eines Jahres nach Zugang des Widerspruchsbescheids, stehen die Chancen gut, dass das Gericht die Sache inhaltlich prüft.

Ist die Klage noch nicht erhoben, reichen Sie sie unverzüglich ein und rügen Sie die unvollständige Belehrung ausdrücklich. Parallel stärken Sie die medizinische Seite: Dokumentieren Sie die Aktenlage zu GdB und Merkzeichen sauber und aktuell – mit Befunden, Angaben zu Alltagseinschränkungen, Mobilität und dem bisherigen Verlauf –, damit die inhaltliche Prüfung auf belastbarer Grundlage erfolgt.

Fazit

Das LSG Berlin-Brandenburg stoppt eine häufige Fristfalle im Schwerbehindertenrecht. Wer wegen einer verkürzten oder missverständlichen Rechtsbehelfsbelehrung aus dem Verfahren zu fallen drohte, erhält mit der Jahresfrist eine zweite Chance. Das schafft Zeit, die eigene Anspruchslage zu untermauern – und bringt Verfahren zurück in die sachliche Prüfung von GdB und Merkzeichen.