Bürgergeld bald nur noch online? Hier hakt es noch gehörig

Lesedauer 5 Minuten

Die Bundesagentur für Arbeit verkauft die Digitalisierung des Jobcenters als Erfolgsgeschichte. Wer Bürgergeld bezieht, erlebt oft das Gegenteil: höhere Hürden, abgebrochene Online-Anträge, eine schlecht funktionierende App und KI-Systeme, die viel versprechen, aber Betroffenen im Zweifel keine rechtssichere Antwort geben.

Steigende Verwaltungskosten, sinkender Nutzen für Leistungsberechtigte

Nach aktuellen Auswertungen sind die Verwaltungskosten der Jobcenter pro Bedarfsgemeinschaft in den vergangenen Jahren stark gestiegen – von gut 1.200 Euro im Jahr 2010 auf über 2.100 Euro im Jahr 2023. Gleichzeitig stagniert die Förderung in Arbeit; ein wachsender Anteil des Geldes fließt in Verwaltung statt in direkte Unterstützung von Leistungsberechtigten.

Für Betroffene heißt das: Mehr Digitalisierung bedeutet bisher nicht, dass Anträge schneller bearbeitet werden, Bescheide klarer werden oder Vermittlung in Arbeit besser funktioniert. Im Gegenteil: Viel zusätzliche IT führt zu neuen Fehlerquellen, mehr Eigenverantwortung der Antragstellenden – und am Ende zu mehr Zeitdruck und Unsicherheit aufseiten der Leistungsberechtigten.

jobcenter.digital und digitaler Hauptantrag: Wo viele Anträge unterwegs stecken bleiben

Wer Bürgergeld beantragen will, wird von vielen Jobcentern aktiv auf den digitalen Hauptantrag bei jobcenter.digital und auf die Jobcenter-App verwiesen. In München zeigt ein offizieller Bericht: Nur etwa die Hälfte der Nutzerinnen und Nutzer füllt den Online-Antrag bis zum Ende aus.

Die andere Hälfte trägt nur den Tag der Antragstellung ein und bricht dann ab. Diese Fälle gelten rechtlich als gestellte Anträge, müssen aber von Mitarbeitenden mühsam nachrecherchiert und nachbearbeitet werden.

Für Betroffene hat das zwei Folgen:

Erstens besteht das Risiko, dass wichtige Angaben und Unterlagen fehlen, weil der digitale Prozess kompliziert und schlecht erklärt ist. Zweitens entsteht Unsicherheit, ob der Antrag wirklich vollständig gestellt wurde und ob der Anspruch rechtzeitig gesichert ist.

Wenn das Jobcenter auf digitale Wege drängt, aber die Technik viele Menschen überfordert, wird der Zugang zur Leistung faktisch erschwert – hauptsächlich für ältere Leistungsberechtigte, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen oder ohne stabiles Internet.

Jobcenter-App: Schlechte Bewertungen und versteckte Bedingungen

Die Jobcenter-App verbindet das Smartphone mit dem Konto bei jobcenter.digital. Offiziell wirbt die BA damit, dass sich damit Nachrichten, Anträge und Unterlagen einfach digital erledigen lassen.

Die Realität sieht anders aus: Im Google Play Store liegt die Bewertung der App im Schnitt nur bei etwas über zwei von fünf Sternen; ein Großteil der Rezensionen vergibt die schlechteste Note. Nutzerinnen und Nutzer schildern technische Probleme, Abbrüche und eine unübersichtliche Bedienung.

Hinzu kommt ein rechtlich heikler Punkt: Wer die App voll nutzen will, soll der „Online-Kommunikation“ unter den Geschäftsbedingungen der BA zustimmen. Ohne diese Zustimmung lassen sich zwar Unterlagen hochladen, aber Antworten des Jobcenters in der App nicht lesen – die App wird damit in der Praxis nahezu unbrauchbar.

Für Leistungsberechtigte ist wichtig: Die Einwilligung bezieht sich nicht nur auf Datenschutz, sondern auf Geschäftsbedingungen, die der BA zusätzlichen Spielraum verschaffen.

Wer diese Bedingungen nicht akzeptieren möchte, darf deshalb nicht von wichtiger Kommunikation ausgeschlossen werden. Bescheide mit Rechtsfolgen müssen weiterhin so zugestellt werden, dass sie sicher ankommen – also in der Regel per Post.

Wenn Jobcenter digitale Anträge zur Pflicht machen wollen

Trotz klarer Rechtslage gibt es Jobcenter, die auf ihren Webseiten den Eindruck erwecken, Bürgergeld könne „nur noch online“ beantragt werden.

Für Betroffene ist entscheidend:
Das Recht, Leistungen schriftlich oder persönlich zu beantragen, bleibt bestehen. Wer keinen Online-Zugang nutzen kann oder will, darf nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden. Ein Jobcenter darf die Nutzung der App oder des digitalen Hauptantrags nicht zur Voraussetzung für Bürgergeld machen.

In der Praxis bedeutet das:
Wenn eine Behörde erklärt, ein Antrag sei ausschließlich digital möglich, sollte man sich beraten lassen und den Antrag schriftlich oder persönlich abgeben. Wichtig ist, sich den Eingang bestätigen zu lassen oder per Einschreiben nachweisbar zu versenden. Sozialberatungsstellen und Erwerbsloseninitiativen können dabei unterstützen, damit kein Monat verloren geht.

KI im Bürgergeld-System: Chatbots ohne Verantwortung

Die BA stellt sich in offiziellen Stellungnahmen gern als Vorreiterin der digitalen Verwaltung und der Künstlichen Intelligenz dar. Neben einem KI-gestützten System zur Betriebsnummernvergabe für Arbeitgeber wird eine Vielzahl von KI-Projekten präsentiert.

Für Menschen im Leistungsbezug relevant sind primär zwei Entwicklungen:

Erstens experimentiert die BA mit dem „Digitalen Assistenten Bürgergeld“ und weiteren Chatbots (etwa zum Kinderzuschlag), die Fragen von Bürgerinnen und Bürgern automatisch beantworten sollen.

Ist Ihr Bürgergeld-Bescheid korrekt?

Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.

Bescheid prüfen

Fachleute kritisieren, dass diese Chatbots rechtlich heikle Auskünfte geben können, ohne dass klar wäre, wer dafür die Verantwortung trägt. Fehlerhafte Antworten können dazu führen, dass Betroffene Fristen versäumen oder auf zustehende Leistungen verzichten.

Zweitens wird mit „BAKIRA“, einem KI-Recherchesystem für Mitarbeitende, ein internes Textassistent-System eingeführt. BAKIRA soll Weisungen, interne Vorgaben und Gesetzestexte durchforsten und Entwürfe für Schreiben der BA liefern. Tests laufen bereits, ein breiter Roll-out wurde für Ende 2025 angekündigt. ([Landtag NRW][5])

Für Leistungsberechtigte heißt das: Immer häufiger werden Entscheidungen auf Grundlage von Texten getroffen, die von einer KI vorformuliert wurden.

Das ändert nichts daran, dass die Behörde weiterhin für die Rechtmäßigkeit ihrer Bescheide haftet – auch dann, wenn ein System wie BAKIRA im Hintergrund gearbeitet hat. Wer einen fehlerhaften Bescheid erhält, muss ihn deshalb genauso prüfen lassen wie bisher und kann Widerspruch einlegen.

Fachverfahren ALLEGRO: Mehrarbeit für Mitarbeitende – mehr Fehlerrisiko für Betroffene

Das zentrale Fachverfahren ALLEGRO, mit dem Bürgergeld berechnet wird, bleibt nach übereinstimmender Kritik technisch hinter den Anforderungen zurück. Wichtige Funktionen fehlen: Das System erkennt beispielsweise nicht automatisch, wenn auf Basis der bereits erfassten Daten ein Anspruch auf Wohngeld oder Kinderzuschlag naheliegt.

Mitarbeitende müssen Daten in externe Excel-Tabellen übertragen, um zu prüfen, ob andere Leistungen günstiger oder zusätzlich möglich wären.

Für Betroffene bedeutet das ganz konkret:

Ob das Jobcenter auf Wohngeld oder Kinderzuschlag hinweist, hängt stark von der einzelnen Sachbearbeitung ab.
Fehler bei der Übertragung von Daten sind wahrscheinlicher, weil zwischen verschiedenen Programmen gewechselt werden muss.

Wer Einkommen knapp oberhalb der Bürgergeld-Grenze hat oder Kinder im Haushalt, sollte deshalb nicht darauf vertrauen, dass das Jobcenter automatisch alle Optionen prüft. Es lohnt sich, zusätzlich selbst oder mit einer Beratungsstelle zu klären, ob Wohngeld oder Kinderzuschlag möglich sind.

Was Sie als Betroffene konkret tun können

Auch wenn die BA die Digitalisierung massiv vorantreibt, behalten Leistungsberechtigte wichtige Rechte. Einige Punkte, die im Alltag helfen:

Wer mit jobcenter.digital oder der Jobcenter-App nicht zurechtkommt, kann Anträge weiterhin schriftlich oder persönlich stellen. Wichtig ist, den Antragseingang nachweisbar zu dokumentieren – etwa durch eine Eingangsbestätigung oder den Versand per Einschreiben. Wenn ein Jobcenter behauptet, nur noch digitale Anträge zu akzeptieren, sollte man diese Aussage nicht einfach hinnehmen, sondern sich schnell rechtlich beraten lassen.

Vor der Zustimmung zu Geschäftsbedingungen und „Online-Kommunikation“ in der App sollte klar sein, welche rechtlichen Folgen das hat. Wer kritische Punkte ablehnt, kann sich auf die Pflicht der Behörde berufen, Bescheide weiterhin per Post zuzustellen. Es kann sinnvoll sein, wichtige Schreiben zusätzlich in Papierform anzufordern, damit Fristen sicher laufen.

Niemals Informationen ungeprüft lassen

Antworten von Chatbots – egal ob „Digitaler Assistent Bürgergeld“ oder andere Systeme – sollten nie ungeprüft übernommen werden. Wer sich auf solche Antworten verlässt, ohne einen Bescheid oder eine schriftliche Auskunft mit Rechtsbehelfsbelehrung zu haben, trägt im Zweifel selbst das Risiko.

Es ist wichtig für Betroffene, bei jedem Bescheid zu prüfen, ob alle möglichen Leistungen berücksichtigt wurden. Gerade bei Haushalten mit Kindern oder bei knappem Erwerbseinkommen kann ein zusätzlicher Wohngeld- oder Kinderzuschlaganspruch bestehen, auch wenn das Fachverfahren ALLEGRO darauf nicht hinweist.

FAQ: Digitalisierung im Jobcenter

Muss Bürgergeld online beantragt werden oder ist die Nutzung der App Pflicht?
Nein. Bürgergeld kann weiterhin schriftlich (Papierformular oder formlos) oder persönlich im Jobcenter beantragt werden. App und Online-Portal sind freiwillige Zusatzangebote. Wird auf „nur online“ verwiesen, sollte der Antrag dennoch schriftlich oder persönlich abgegeben und der Eingang nachweisbar dokumentiert werden (z. B. Eingangsbestätigung, Einschreiben).

Gilt ein Online-Hauptantrag schon, wenn er nicht vollständig ausgefüllt wurde?
In der Regel gilt ein Online-Antrag als gestellt, sobald das Datum eingetragen, der Antrag abgesendet und im System des Jobcenters erfasst wurde. Häufig fehlen dann jedoch Angaben oder Unterlagen. Nachforderungen des Jobcenters sollten zügig und nachweisbar beantwortet werden.

Sind Auskünfte von Chatbots (z. B. „Digitaler Assistent Bürgergeld“) rechtlich verbindlich?
Nein. Chatbots geben lediglich unverbindliche Hinweise. Für Fristen, mögliche Sanktionen oder komplexe Sachverhalte sind Bescheide mit Rechtsbehelfsbelehrung oder schriftlich dokumentierte Auskünfte der Behörde maßgeblich.

Prüft das Jobcenter automatisch, ob Wohngeld oder Kinderzuschlag günstiger oder zusätzlich möglich ist?
Nicht zuverlässig. Ob auf Wohngeld oder Kinderzuschlag hingewiesen wird, hängt oft von der Initiative der einzelnen Sachbearbeitung ab. Es ist daher sinnvoll, mögliche Ansprüche auf diese Leistungen gesondert – etwa durch eine unabhängige Beratungsstelle – prüfen zu lassen, insbesondere bei Familien mit niedrigem Einkommen.