Wenn ein Mensch mit Schwerbehinderung eine Maรnahme des Jobcenters abbricht, weil ihn diese kรถrperlich รผberlastet, dann handelt es sich um einen wichtigen Grund. Das Jobcenter ist in dieser Situation nicht berechtigt, den Betroffenen wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht zu sanktionieren. So entschied das Sozialgericht Berlin (S 159 AS 6473/14 R).
Inhaltsverzeichnis
Gehbehinderung und Atembeschwerden
Der Betroffene ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Im Behindertenausweis ist auรerdem das Merkzeichen โGโ vermerkt, fรผr eine erhebliche Gehbehinderung. Infolge einer Tuberkulose hat er Atemprobleme bei Kรคlte und hoher Luftfeuchtigkeit und ist durch ein verletztes Sprunggelenk beim Laufen eingeschrรคnkt.
Jobcenter wusste um die Einschrรคnkungen
Er bezog Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, und dem Jobcenter waren diese Einschrรคnkungen bekannt. Sie wurden auch in seiner Eingliederungsvereinbarung notiert, um zu klรคren, welche Stellen fรผr ihn bei der Arbeitsvermittlung geeignet erschienen.
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Recherche zu Kunst am Bau
Das Jobcenter wies dem Leistungsberechtigten eine Maรnahme zu, die der Arbeitsvermittlung dienen sollte. Als “Bezeichnung der Tรคtigkeit” nannte der Bescheid: “Helfer/in โ Bรผro, Verwaltung”. Als “Tรคtigkeitsbeschreibung” wurden genannt “Datenrecherche, Datensammlung, Texterfassung und -bearbeitung; Erarbeitung einer aktuellen รbersicht รผber Kunst am Bau/im รถffentlichen Raum (…) , ordnen und in einer Datenbank erfassen”.
Kunstobjekte im รถffentlichen Raum erfassen
Der Leistungsbezieher begann die Maรnahme. Er wurde allerdings nicht nur im Bรผro eingesetzt, sondern musste Kunstobjekte auch im รถffentlichen Raum fotografieren und katalogisieren. Dazu musste er sich auch in Bereiche begeben, die schwer zu erreichen waren.
Regelsatz um 30 Prozent gekรผrzt
Ohne sich krank zu melden und ohne das Jobcenter oder den Trรคger zu informieren, brach er die Maรnahme ab. Das Jobcenter hรถrte ihn zwar dazu an, warum er die Tรคtigkeit nicht fortsetzte, minderte aber nach der Anhรถrung seinen Regelsatz um 30 Prozent. Die Behรถrde begrรผndete dies damit, dass er seine Mitwirkungspflicht verletzt hรคtte.
Ein Widerspruch des Betroffenen blieb erfolglos, und deshalb klagte er vor dem Sozialgericht gegen die Sanktion.
Trotz Gehbehinderung wurden Auรenarbeiten zugewiesen
Beim Sozialgericht sagte er aus, er habe den Maรnahmentrรคger gleich zu Beginn auf seine Schwerbehinderung und seine besonderen gesundheitlichen Probleme hingewiesen. Dennoch seien ihm Auรenarbeiten zugewiesen worden, und dies in erheblichem Ausmaร. Er habe unter anderem Graffitis in einem Hochhaus fotografieren mรผssen.
Gesundheitliche Einschrรคnkungen machen die Arbeit unmรถglich
Obwohl er sich anfangs bemรผht hรคtte, diese Aufgaben zu erfรผllen, sei ihm dies aufgrund seiner gesundheitlichen Einschrรคnkungen nicht mรถglich gewesen. Er hรคtte also einen wichtigen Grund gehabt, die Maรnahme abzubrechen, und damit gebe es keine Grundlage fรผr Sanktionen.
Jobcenter sieht keinen wichtigen Grund
Das Jobcenter hielt dem entgegen, dass es keinen wichtigen Grund gegeben hรคtte, die Maรnahme abzubrechen. Er hรคtte daran bereits einige Zeit teilgenommen, ohne sich zu melden und gesundheitliche Grรผnde zu beklagen. Es gebe auch kein รคrztliches Attest oder eine Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung.
Gericht sieht wichtigen Grund, die Maรnahme abzubrechen
Das Sozialgericht bestรคtigte den Standpunkt des Leistungsberechtigten. Dieser habe einen wichtigen Grund dafรผr gehabt, die Maรnahme abzubrechen. Denn die konkrete Gestaltung und Umsetzung der Maรnahme seien ihm nicht zumutbar gewesen.
Es besteht kein Zweifel an den gesundheitlichen Einschrรคnkungen
Die Richter formulierten: โDas Gericht hat keinen Zweifel, dass die Ausfรผhrungen des Antragstellers zu seinen gesundheitlichen Einschrรคnkungen (Gehprobleme, Defizite bei der Lungenfunktion) infolge der Tuberkulose und der Verletzung am Sprunggelenk zutreffend sind. (…). Indiziell wird das auch durch Schwerbehinderteneigenschaft mit dem Merkzeichen “Gโ belegt. Im รbrigen wendet auch der Antragsgegner dagegen nichts ein.โ
Von der Arbeit รผberfordert
Laut Gericht bestand kein Zweifel daran, โdass (der Betroffene) in erheblichem Umfang zu auch kรถrperlich anstrengenden Auรenarbeiten herangezogen wurde.โ Die Richter sagten, sie seien รผberzeugt davon, dass der Mann bei dieser Tรคtigkeit gesundheitlich รผberfordert war.
รrztliche Bescheinigung ist nicht nรถtig
Bei derart schlรผssigen Gesamtumstรคnden mรผsse keine ausdrรผckliche รคrztliche Bescheinigung vorliegen. Die Richter betonten: โAusreichend fรผr die Unzumutbarkeit der Maรnahme ist bereits die nachvollziehbare Erschwernis wegen der gesundheitlichen Einschrรคnkungen und die weitere Gefรคhrdung des gesundheitlichen Zustandes.โ
Tรคtigkeit war objektiv unzumutbar
Es sei auch unerheblich, ob der Betroffene das Gesprรคch gesucht oder sich mit einer Erklรคrung abgemeldet hรคtte. Die Unzumutbarkeit sei objektiv vorhanden gewesen, und damit sei ein wichtiger Grund gegeben, die Maรnahme abzubrechen.
Sanktionen sind rechtswidrig
Das Gericht schloss: Die tatbestandlichen Voraussetzungen fรผr eine Sanktion liegen damit nicht vor, sodass der Sanktionsbescheid auch nicht rechtmรครig sein kann.โ Das Jobcenter musste die bereits einbehaltenen Betrรคge wieder auszahlen und von weiteren Kรผrzungen absehen.