Schwerbehinderung bedeutet oft auch, nur wenige Stunden am Tag arbeiten zu kรถnnen โ aber nicht immer. Viele Erwerbsgeminderte sind nicht schwerbehindert, und viele Menschen mit Schwerbehinderung sind nicht erwerbsgemindert.
So entschied das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg gegen den Anspruch einer Frau, eine Rente wegen Erwerbsminderung zu erhalten. Die Betroffene ist infolge eines Verkehrsunfalls schwerbehindert, leidet an Konzentrationsproblemen und mangelnder Belastbarkeit. Trotzdem hielt das Gericht sie fรผr fรคhig, mehr als sechs Stunden tรคglich zu arbeiten, und damit besteht keine Erwerbsminderung. (L 8 R 3712/21)
Inhaltsverzeichnis
Klage vor dem Sozialgericht Mannheim
Die Rentenversicherung lehnte den Antrag der Betroffenen auf eine Erwerbsminderungsrente ab, mit der Begrรผndung, trotz ihrer Erkrankung kรถnne sie noch lรคnger als sechs Stunden arbeiten. Auch den Widerspruch der Frau gegen diesen Bescheid wies die Rentenkasse zurรผck. Deshalb klagte die Schwerbehinderte vor dem Sozialgericht Mannheim.
Leichtere Arbeiten sind mรถglich
Das Sozialgericht Mannheim nahm die Untersuchung eines Sachverstรคndigen als Grundlage. Dieser hatte festgestellt, dass die Betroffene keine Nachtschichten oder Arbeiten mit verstรคrkter Anforderung an die Konzentration ausรผben kรถnne.
Sie sei jedoch in der Lage, leichte kรถrperliche Arbeiten in verschiedenen Arbeitshaltungen auszufรผhren, bei รผblichem Zeitdruck und Publikumsverkehr. Sie sei zudem geistig flexibel und die Einarbeitung in eine neue Berufstรคtigkeit innerhalb von drei Monaten mรถglich. Das Sozialgericht wies die Klage als unbegrรผndet ab. Die Frau gab nicht auf und legte Berufung beim Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg ein.
Antrag 18 Jahre nach der Schwerbehinderung
Das Landessozialgericht ging ausfรผhrlich auf die Krankheitsgeschichte der Betroffenen ein. Diese hรคtte bei Ihrem Antrag ausgefรผhrt, sich seit ihrem Unfall 18 Jahre zuvor fรผr erwerbsgemindert zu halten. So habe sie die ersten zweieinhalb Jahre nach dem Unfall wie in Trance gelebt. Durchgehend habe sie Bewusstseinsaussetzer. Fรผnf Jahre lang sei eine gesetzliche Betreuung notwendig gewesen.
Geschรคdigte Hirnfunktionen sorgen fรผr Einschrรคnkungen im Alltag
Ihre geschรคdigten Hirnfunktionen fรผhrten zu Schwierigkeiten dabei, ihre Gedanken zu sortieren und Arbeitsauftrรคge umzusetzen. โAlles springeโ in ihrem Kopf, und bei Stress bekรคme sie migrรคneartige Kopfschmerzen ebenso wie Magen-Darm-Beschwerden. Ihre aktuelle Arbeit belastet sie wegen zu hoher Erwartungen sehr. Sie hรคtte nicht die Kraft fรผr ihr eigenes Leben, ihren Haushalt oder Unternehmungen mit ihrem Sohn.
Keine Antriebsminderung und keine รผbermรครige Erschรถpfung
Nach Einsicht in die Gutachten kam das Landessozialgericht zu der Einschรคtzung, dass weder kognitive Defizite relevanten Ausmaรes vorlรคgen noch eine Antriebsminderung oder gar eine psychomotorische Hemmung. Auch das Umstellungs- und Anpassungsvermรถgen sei nicht eingeschrรคnkt.
Das Gericht erlรคuterte, dass weder fehlende Konzentration noch starke Erschรถpfung in der Freizeit erkennbar seien: โDemnach zeigte sich in der Anamnese ein ausgefรผllter Alltag der Klรคgerin (soziale Kontakte, Haushalt, Einkaufen, Musikhรถren, viel Lesen โ auรer Bรผcher โ, Telefonieren und Nutzung sozialer Medien, Filme ansehen). Sie gab handwerkliche und kreative Interessen (Reparieren, Basteln) an, denen sie auch nachgeht. Nur bei lรคngeren Gesprรคchssequenzen habe die Klรคgerin den Faden verloren, sonst keine Ermรผdung oder Vigilanzschwankungen gezeigt.”
In einem Konzentrationstest schnitt sie nicht auffรคllig negativ ab: “Der kognitive Befund im durchgefรผhrten d2-Konzentrationstest, der das Tempo und die Sorgfalt des Arbeitsverhaltens messe und eine Beurteilung der individuellen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen erlaube, war fehlerfrei bei nur leicht unterdurchschnittlicher Bearbeitungsgeschwindigkeit und durchschnittlichem bis gutem Ergebnis.โ
Qualitative Einschrรคnkungen, keine quantitativen
Die vorhandenen Einschrรคnkungen wรผrden das Leistungsvermรถgen qualitativ einschrรคnken, aber nicht quantitativ. Bei einer Erwerbsminderung geht es aber um eine Einschrรคnkung der tรคglichen Arbeitszeit und nicht um die Qualitรคt der Arbeit. Wer weniger als sechs Stunden pro Tag arbeiten kann, gilt als teilweise erwerbsgemindert. Wer weniger als drei Stunden pro Tag arbeiten kann, gilt als voll erwerbsgemindert.
Eine leidensgerechte Tรคtigkeit ist nรถtig, aber keine reduzierte Stundenzahl
Ihre Beeintrรคchtigungen kรถnnten durch qualitative Leistungseinschrรคnkungen berรผcksichtigt werden, und das ohne Arbeitsbedingungen, die unรผblich seien. Die Richter fรผhrten aus: โDemnach ist die Klรคgerin entgegen der Klagebegrรผndung insbesondere in der Lage, eine Erwerbstรคtigkeit unter den รผblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes auszuรผben. Anhaltspunkte fรผr eine relevant verminderte Anpassungs- und Umstellungsfรคhigkeit, fรผr einen so verminderten Antrieb oder fรผr so stark eingeschrรคnkte kognitive Fรคhigkeiten, dass die Klรคgerin von vornherein nicht den Anforderungen leidensgerechter Tรคtigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gewachsen wรคre, sind demnach nicht ersichtlich.โ
Eine volle oder teilweise Erwerbsminderung kรถnnte nicht nachgewiesen werden, sodass kein Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente bestehe.