Schwerbehinderung: Hartes Signal an die Rentenkasse – Gericht stellt klar, was bei Depressionen gilt

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Ein an schwerer Depression erkrankter Mensch setzte gegenรผber der Rentenkasse seinen Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente durch, die die Versicherung ihm zunรคchst verweigert hatte. Eine unbefristete Rente hielten die Richter am Sozialgericht Kassel allerdings nicht fรผr angebracht, da seine Beschwerden sich bessern kรถnnten. (Az. S 7 R 173/16)

Der Betroffene stellte bei der Rentenversicherung einen Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfรคhigkeit. Er hatte zuvor รผber die Arbeitsagentur Kassel eine Umschulung zum Zerspanungsmechaniker durchgefรผhrt. Das Gericht sprach ihm eine befristete volle Erwerbsminderungsrente fรผr den Zeitraum vom 01.09.2017 bis zum 28.02.2018 zu.

Schwerbehinderung wegen vieler Einschrรคnkungen

Als Grund fรผr die von ihm beanspruchte Erwerbsminderung gab er mehrere Beschwerden an. So leidet er an den Folgen zweier Bandscheibenoperationen, er habe rechts eine FuรŸheberparese (eine nervlich bedingte Einschrรคnkung, den FuรŸ zu heben), Atemaussetzer wรคhrend des Schlafes und Schlafstรถrungen.

AuรŸerdem habe er Schmerzen in der Lendenwirbelsรคule, die in die Beine ausstrahlten, einen beidseitigen Tinnitus sowie eingeschrรคnkte Funktionen der linken Hand. Sein Grad der Behinderung betrug 50; damit war er als schwerbehindert anerkannt.

Er gab zudem seelische Beschwerden an, die den Verlauf des Gerichtsverfahrens entscheiden sollten.

Rentenversicherung lehnt den Antrag nach Gutachten ab

Die Rentenversicherung sah medizinische Unterlagen des Betroffenen ein. Diese umfassten Entlassungsberichte verschiedener Reha-Kliniken sowie Dokumente nach einem Sturz von einem Gabelstapler und รคrztliche Befundberichte.

Um die aktuelle Situation einzuschรคtzen, zog die Rentenkasse auรŸerdem medizinische Gutachten eines Neurologen und Psychiaters sowie eines Orthopรคden hinzu.

Beide kamen in ihrem Bereich zu dem Ergebnis, dass der Betroffene zwar qualitativ eingeschrรคnkt sei, aber mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten kรถnnte. Das schlieรŸt eine Erwerbsminderung aus.

Widerspruch gegen den psychiatrischen Befund

Der Mann legte Widerspruch gegen die Ablehnung ein. Dieser richtete sich primรคr gegen das neurologisch-psychiatrische Gutachten. Er hielt den Sachverstรคndigen nicht fรผr geeignet, seine Leistung zutreffend einzuschรคtzen und bemรคngelte, der Gutachter habe sich nicht hinreichend mit dem Inhalt der Akten auseinandergesetzt.

Die Rentenversicherung wies den Widerspruch als unbegrรผndet zurรผck. Deshalb versuchte der Betroffene, seinen Anspruch vor dem Sozialgericht durchzusetzen โ€“ mit Erfolg.

Gerichtlicher Gutachter kommt zu anderem Ergebnis

Das Gericht forderte vorhergehende Befundberichte an und gab ein eigenes Sachverstรคndigengutachten in Auftrag. Ein Facharzt fรผr Psychiatrie untersuchte den Klรคger persรถnlich und befragte ihn.

Im Unterschied zu den Einschรคtzungen der von der Rentenversicherung beauftragten ร„rzte hielt dieser Psychiater den Betroffenen fรผr voll erwerbsgemindert. Er kรถnne auch leichte Tรคtigkeiten nur noch weniger als drei Stunden pro Tag ausรผben โ€“ und das ist das maรŸgebliche Kriterium fรผr eine volle Erwerbsminderung nach ยง 43 SGB VI.

Zudem habe diese geminderte Leistungsfรคhigkeit bereits bestanden, als der Betroffene seinen Rentenantrag stellte.

Warum bestand eine volle Erwerbsminderung?

Der Psychiater erkannte eine schwere depressive Episode, verbunden mit Alkoholmissbrauch, dazu Tinnitus, einen Zustand nach Bandscheibenoperation und weitere gesundheitliche Beeintrรคchtigungen. Entscheidend fรผr die rechtliche Bewertung war jedoch die Depression.

Diese mindere die Erwerbsfรคhigkeit unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf Dauer so, dass der Betroffene nur unter drei Stunden tรคglich arbeiten kรถnne.

Die schwere depressive Episode halte bereits รผber einen lรคngeren Zeitraum an; dies belege eine vorherige stationรคre Behandlung sowie anschlieรŸende ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen.

Rechtlicher Hintergrund: Was bedeutet โ€žvoll erwerbsgemindertโ€œ?

Nach ยง 43 SGB VI ist voll erwerbsgemindert, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit auรŸerstande ist, unter drei Stunden tรคglich erwerbstรคtig zu sein. Teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn noch drei bis unter sechs Stunden mรถglich sind.

MaรŸstab sind die รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, nicht der zuletzt ausgeรผbte Beruf.

Richter halten das neue Gutachten fรผr รผberzeugend

Die Richter hielten das neue Gutachten fรผr medizinisch objektiv und fachlich sauber. Sie kritisierten, dass zuvor der von der Rentenversicherung beauftragte Facharzt die Symptome nur kurz geschildert und sich nicht hinreichend mit der Krankheitsbiografie auseinandergesetzt habe.

Vor dem Hintergrund des ausgeprรคgten depressiven Krankheitsbildes sei ein weitergehendes Leistungsvermรถgen nicht belegt. Die Depression begrรผnde ein zeitlich eingeschrรคnktes Leistungsvermรถgen unterhalb der Drei-Stunden-Grenze.

Volle Erwerbsminderungsrente, aber befristet

Der Betroffene hatte nicht nur eine volle, sondern auch eine unbefristete Erwerbsminderungsrente beansprucht. Die Richter entschieden, dass ihm zwar eine volle Rente zustehe, diese jedoch befristet gelte โ€“ konkret vom 01.09.2017 bis zum 28.02.2018.

Grundlage ist ยง 102 SGB VI: Danach werden Renten wegen verminderter Erwerbsfรคhigkeit regelmรครŸig befristet (jeweils bis zu drei Jahren). Eine Dauerrente kommt nur in Betracht, wenn auf nicht absehbare Zeit keine wesentliche Besserung zu erwarten ist.

Das hier auf weniger als drei Stunden gesunkene tรคgliche Leistungsvermรถgen sei bewiesen. Es sei allerdings nicht unwahrscheinlich, dass sich die Depression durch Therapie bessern und damit auch die tรคgliche Leistungsfรคhigkeit steigen kรถnne.

Deshalb komme eine unbefristete Erwerbsminderungsrente derzeit nicht in Betracht; eine Verlรคngerung ist bei fortbestehender Minderung grundsรคtzlich mรถglich.

Was bedeutet dieses Urteil fรผr Betroffene?

Die Rentenversicherung legt die Hรผrden hoch, um eine Erwerbsminderung anzuerkennen. Immer wieder zeigt sich, dass die Bewertung der Leistungsfรคhigkeit โ€“ insbesondere bei psychischen Erkrankungen โ€“ zwischen Versichertem, Gutachtern und Rentenversicherung umstritten ist.

Das Urteil macht deutlich: Gerichtliche Sachverstรคndigengutachten kรถnnen zu einer anderen Einschรคtzung gelangen als Gutachten im Verwaltungsverfahren.

Vorsicht mit Pauschalen โ€“ aber Rechte selbstbewusst nutzen

Pauschale Unterstellungen helfen niemandem. Wichtig ist, dass die individuelle Krankheitsgeschichte grรผndlich aufgearbeitet wird. Wer sich falsch eingeschรคtzt fรผhlt, sollte Widerspruch einlegen und โ€“ wenn nรถtig โ€“ Klage vor dem Sozialgericht erheben. Unabhรคngige Richterinnen und Richter korrigieren fehlerhafte Bewertungen immer wieder.

Voll erwerbsgemindert statt voll erwerbsfรคhig

Im konkreten Fall zeigte der Krankheitsverlauf โ€“ hauptsรคchlich die anhaltende schwere Depression โ€“ die deutlich eingeschrรคnkte Leistungsfรคhigkeit. Es ging nicht um die Abgrenzung zwischen teilweiser und voller Erwerbsminderung, sondern darum, dass der Mann entgegen der Verwaltungsentscheidung nicht voll erwerbsfรคhig war, sondern voll erwerbsgemindert โ€“ mit Anspruch auf eine (zunรคchst) befristete Rente.