Schwerbehinderung: Grad der Behinderung rückwirkend erhöht

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Ein aktuelles Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (L 3 SB 86/23) zeigt, wie man mit mehreren gesundheitlichen Einschränkungen erfolgreich einen höheren Grad der Behinderung (GdB) rückwirkend durchsetzen kann.

Rückwirkender Erfolg: GdB 60 ab 2017, GdB 80 ab 2021

Der Kläger, ein heute über 60-jähriger Mann, litt an verschiedenen chronischen Erkrankungen. Obwohl der Antrag erst 2022 gestellt wurde, verpflichtete das Gericht das zuständige Versorgungsamt zur Feststellung eines GdB von 60 ab Juni 2017 und eines GdB von 80 ab März 2021.

Wichtig war dabei nicht nur der medizinische Verlauf, sondern auch die Plausibilität der Beschwerden im Zusammenspiel mit den vorliegenden Befunden.

Chronische Nervenschmerzen nach Zahnbehandlung als Wendepunkt

Ausschlaggebend für die höhere GdB-Bewertung war das Auftreten einer therapieresistenten Trigeminusneuralgie nach einer Kieferoperation im März 2021. Die dabei entstandenen Nervenschmerzen im Gesicht entwickelten sich zu einem belastenden Dauerschmerz, der sich weder medikamentös noch durch andere Therapieformen lindern ließ.

Laut den versorgungsmedizinischen Grundsätzen wird eine solche Schmerzintensität mit einem Einzel-GdB von 60 angesetzt – ein Wert, der maßgeblich zur Gesamtbewertung beitrug.

Einzelfall mit Signalwirkung: Wie der GdB richtig gebildet wird

Das Gericht stellte klar, dass sich der GdB nicht durch Addition der Einzelwerte ergibt. Vielmehr müssen die Wechselwirkungen der einzelnen Leiden bewertet werden. Im Fall des Klägers ergab sich aus der Kombination chronischer Erkrankungen und dauerhafter Schmerzbelastung ein Gesamt-GdB von 80 ab März 2021.

Die Entscheidung ist auch deshalb bemerkenswert, weil die GdB-Erhöhung rückwirkend erfolgte und nicht an einen konkreten Leistungsbezug geknüpft war.

Rückwirkende Feststellung möglich – bei besonderem Interesse

Auch wenn ein Antrag auf Schwerbehinderung verspätet gestellt wird, kann der GdB rückwirkend anerkannt werden. Voraussetzung dafür ist ein “besonderes Interesse”. Das Gericht akzeptierte unter anderem den Hinweis auf steuerliche Erleichterungen oder die Vorbereitung eines Rentenantrags als ausreichend. Diese Möglichkeit bietet Spielraum für Menschen, die ihre Rechte bislang nicht ausgeschöpft haben.

Weitere relevante Erkrankungen berücksichtigt

Neben der Trigeminusneuralgie bewertete das Gericht auch weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen wie eine essentielle Thrombozythämie (GdB 30), einen behandlungsbedürftigen Bluthochdruck (GdB 10) sowie eine funktionelle Wirbelsäulenstörung (GdB 10).

Zwar führten diese Erkrankungen einzeln nicht zu einer erheblichen Teilhabeeinschränkung, in ihrer Kombination jedoch rechtfertigten sie eine GdB-Erhöhung.

Zudem wies ein gerichtlich beauftragter Sachverständiger auf eine ausgeprägte chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Komponenten hin, die später mit einem zusätzlichen Einzel-GdB bewertet wurde.

Was Betroffene aus dem Urteil lernen können

Das Urteil zeigt: Auch bei nicht sichtbaren Beschwerden wie Nervenschmerzen oder funktionellen Störungen können Betroffene erfolgreich eine höhere GdB-Feststellung erreichen. Entscheidend ist, dass die gesundheitlichen Folgen medizinisch dokumentiert und nachvollziehbar dargestellt werden.

Auch medizinische Widersprüche können durch Sachverständigengutachten geklärt werden. Wer seine Rechte kennt, kann einen rechtssicheren Antrag stellen oder gegen fehlerhafte Bescheide vorgehen.