Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen bestätigte den Anspruch einer Klägerin auf eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Dem Verfahren gingen Entscheidungen vor dem Sozialgericht Köln sowie dem Bundessozialgericht voraus.
Im Kern ging es um die Frage, ob die Klägerin angesichts ihrer gesundheitlichen Einschränkungen und der fehlenden Möglichkeit, ein Auto dauerhaft zu nutzen, den allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt erreichen kann.
Ausgangssituation: Erwerbsminderungsrente und Gesundheitszustand
Die Klägerin, geboren 1964, hatte eine Ausbildung zur staatlich geprüften Wirtschafterin abgeschlossen. Anschließend war sie mehrere Jahre versicherungspflichtig in einer Jugendherberge im Schichtdienst beschäftigt und meldete sich im November 2016 arbeitsunfähig.
Zuerst bezog sie Krankengeld, danach Arbeitslosengeld und erhielt danach keinerlei existenzsichernde Leistungen. Bei ihr liegt ein anerkannter Grad der Behinderung von 50 vor. Ihre gesundheitlichen Einschränkungen betreffen neben orthopädischen Beschwerden wie Arthrose und Wirbelsäulenleiden auch eine ausgeprägte Psoriasis und wiederkehrende Schmerzen.
Psychische Probleme, Übergewicht und hoher Blutdruck kamen hinzu und beeinflussten ihre Belastbarkeit im Alltag.
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Streitpunkt: Ist die Klägerin trotz gesundheitlicher Einschränkungen arbeitsfähig?
Mehrere medizinische Gutachten mussten klären, ob sie tatsächlich weniger als drei oder sechs Stunden arbeitsfähig ist oder ob sie sogar voll erwerbsgemindert gilt. Diese Gutachten kamen zu dem Ergebnis, dass sie grundsätzlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ausführen kann, sofern bestimmte qualitative Einschränkungen beachtet werden.
Sie könnte theoretisch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten, wenn sie hauptsächlich sitzt und körperliche Belastungen vermeidet. Umstritten blieb dennoch, ob sie überhaupt in der Lage ist, einen Arbeitsplatz regelmäßig aufzusuchen.
Erwerbsminderung wegen fehlendem Auto?
Das Kernproblem bestand darin, dass die Klägerin ihre Gehfähigkeit nur eingeschränkt nutzen kann und lange oder häufige Fußwege nicht zumutbar sind. Nach geltender Rechtsprechung benötigen Personen, die nicht aus eigener Kraft mindestens viermal täglich jeweils 500 Meter innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu Fuß zurücklegen können, eine alternative Beförderungsmöglichkeit.
Wenn eine solche Mobilitätskompensation fehlt und keine öffentlichen Verkehrsmittel realistisch nutzbar sind, gilt der allgemeine Arbeitsmarkt als verschlossen.
Wegunfähigkeit: Warum die fehlende Pkw-Nutzung entscheidend war
Die medizinischen Feststellungen machten klar, dass die Klägerin aufgrund ihrer orthopädischen und psoriatischen Beschwerden nur kurze Strecken gehen kann. Da sie keinen Arbeitsplatz hatte, musste sie sich potenziell auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewerben können.
Hierfür wäre die selbstständige Mobilität von erheblicher Bedeutung gewesen. Zwar besitzt sie eine Fahrerlaubnis, doch sie meldete ihr eigenes Auto im September 2019 ab, weil sie dieses nach eigener Aussage aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr halten konnte. Zwar existieren in ihrem Haushalt weitere Fahrzeuge, doch diese sind an feste Fahrpläne ihres Ehemanns und ihrer Söhne gebunden und stehen ihr nicht dauerhaft zur Verfügung.
Das Gericht sah darin eine fehlende „jederzeitige“ Nutzung und entschied, dass sie keinen realistischen Zugriff auf ein Fahrzeug hat, um ihre gesundheitliche Einschränkung zu kompensieren.
Gerichtliche Würdigung: Wann die Erwerbsminderungsrente eintritt
Das Gericht folgte der Argumentation, dass die fehlende Mobilität einen Versicherungsfall darstellt, wenn die gesundheitlichen Einschränkungen nicht anders ausgeglichen werden können.
Die Klägerin hätte zwar ein vollschichtiges Leistungsvermögen, könnte dieses aber nur verwerten, wenn sie ein jederzeit verfügbares Transportmittel hätte. Das Landessozialgericht stellte klar, dass die reine Möglichkeit, Familienfahrzeuge gelegentlich zu nutzen, nicht genügt, da es an konstanter Verfügbarkeit fehlt.
Ab dem Zeitpunkt der Abmeldung ihres Pkw am 11.09.2019 liege somit die Voraussetzungen für eine volle Erwerbsminderung wegen Wegeunfähigkeit vor.
Was hätte die Rentenversicherung unternehmen können?
Das Urteil betont, dass die Rentenversicherung im Prinzip Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anbieten kann, um die Mobilität auf andere Art sicherzustellen. Durch solche Maßnahmen – beispielsweise Zusicherungen zu Fahrtkostenerstattungen oder andere Mobilitätshilfen – könnte der Arbeitsmarkt für mobilitätseingeschränkte Personen offengehalten werden.
Da es im konkreten Fall jedoch keinen solchen Bescheid gab, bleibt nur die Gewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung.