Der festgestellte Grad der Behinderung entscheidet, welche Nachteilsausgleiche Betroffene bekommen. Einen Schwerbehindertenausweis gibt es erst ab einem Grad der Behinderung von 50, und das gilt auch für die damit verbundenen Vergünstigungen bei der Steuer, bei der Arbeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei der Finanzierung von Hilfsmitteln.
Inhaltsverzeichnis
Addieren sich verschiedene Beschwerden?
Kompliziert wird es, wenn Betroffene verschiedene Beschwerden haben, die jeweils für sich genommen, einem Grad der Behinderung entsprechen. Diese werden dann nicht einfach zusammen gezählt.
Sie müssen vielmehr daraufhin geprüft werden, wie weit sie insgesamt die Betroffenen im gesellschaftlichen Leben einschränken. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz erörterte in einem konkreten Fall , was Gerichte bei dieser Einschätzung beachten müssen (Az: L 4 SB 127/18).
Der Tatbestand
Die Betroffene klagte vor dem Landessozialgericht Rheinland-Pfalz wegen des Grades ihrer Behinderung. Sie litt unter diversen Beschwerden, im Rücken, in den Knie- und Sprunggelenken. Hinzu kamen eine Gesichtslähmung, eine Augenmigräne, Depressionen und weitere Krankheiten.
Das Landesamt lehnte eine Anerkennung eines Grades der Behinderung ab. Die Frau legte erfolglos Widerspruch ein und ging vor das Sozialgericht Speyer. Dieses holte ein chirurgisch-orthopädisches Gutachten ein und las Befundberichte.
Ein Gutachter bewertete die Beschwerden an der Wirbelsäule mit einem Grad der Behinderung von 30 und die Beeinträchtigung der Kniegelenke mit einem Grad der Behinderung von 20. Insgesamt, so der Gutachter, liege ein Grad der Behinderung von 40 vor. Das Sozialgericht gab der Klage statt und stellte einen Grad der Behinderung von 30 fest.
Berufung und neues Gutachten
Das Landesamt lehnte diese Entscheidung ab und ging vor dem Landessozialgericht Rheinland-Pfalz in Berufung. Die Betroffene holte hier ein Eigengutachten ein, diesmal ein neurologisch-psychiatrisches.
Der selbst gewählte Gutachter kam indessen zu dem Ergebnis, dass sie einige ihrer Beschwerden simuliere. Die neurologischen Symptome bewertete er mit einem Grad der Behinderung von 20, das Wirbelsäulenleiden nur mit einem Grad der Behinderung von 10.
Insgesamt stellte er einen Grad der Behinderung von 20 fest. Das Landessozialgericht folgte diesem Gutachten und erkannte lediglich einen Grad der Behinderung von 20 an.
Das Gericht erörtet die Bewertung
Wichtig in diesem Verfahren war jetzt, dass das Landessozialgericht die Grundlagen der Bewertung erklärte, um einen Grad der Behinderung festzustellen.
Verschiedene Erkrankungen geben in unterschiedlichen Körperfunktionen Einzelgrade einer Behinderung vor. Diese Grade der Behinderung sind definiert nach dem Ausmaß, in dem die jeweiligen Beschwerden Funktionen stören – und für die geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen dieser Störungen.
Eine für Grade der Behinderung wesentliche Beeinträchtigung ergibt sich, laut dem Landessozialgericht, wenn der Zustand von Körper und Gesundheit negativ von demjenigen abweicht, der typisch für das Lebensalter ist.
Eine Feststellung müsse nur dann getroffen werden, wenn der Grad der Behinderung mindestens 20 betrage. Das Regelwerk für diese Feststellungen seien die Versorgungsmedizinischen Grundlagen.
Drei Schritte sind notwendig
Dabei würde in drei Schritten vorgegangen: Erstens würden die einzelnen Gesundheitsstörungen notiert, wenn diese nicht vorüber gingen, und auch die daraus abgeleiteten Beeinträchtigungen an der Teilhabe.
Zweitens würden diese Gesundheitsstörungen dann den einzelnen Funktionssystemen zugeordnet, wie sie in den Versorgungsmedizinischen Grundlagen erwähnt seien.
Drittens würden diese dann in ihren wechselseitigen Beziehungen betrachtet und eine Gesamtschau erstellt, die einen Gesamtgrad der Behinderung zuließe.
Kein bloßes Addieren
Dabei ließen sich die einzelnen Störungen nicht schlicht zusammen zählen. Sie könnten sich decken, sich überschneiden, sich gegenseitig verstärken oder auch nebeneinander stehen. Die Diagnose der Einzelstörungen liefe ausschließlich über medizinische Bewertungen.
Den Gesamtgrad der Behinderung stelle aber nicht der Arzt fest, sondern das Gericht. Hier ginge es nämlich nicht um die medizinische Ebene, sondern um die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Grad der Behinderung hängt von einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen ab
Wenn jetzt mehrere Beeinträchtigungen vorlägen, so das Landessozialgericht, dann müsse der Grad der Behinderung nach den einzelnen Beeinträchtigungen beurteilt werden. Diese müssten insgesamt zugrunde gelegt und in ihren Wechselbeziehungen betrachtet werden. In der Gesamtschau ginge es um alle Auswirkungen.
Verschiedene Beeinträchtigungen bedeuten nicht immer eine stärkere Behinderung
Zunächst werde die Behinderung betrachtet, die für sich genommen den höchsten Einzelgrad verursache. Dann würden alle weiteren Beeinträchtigungen einbezogen und geprüft, ob diese den Grad der Behinderung insgesamt erhöhten.
Im konkreten Fall hätte der Einzelgrad die Gesamteinschätzung eines Grades der Behinderung von 20 nicht geändert. Es gebe auch keine weiteren Beeinträchtigungen, die die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zusätzlich minderten. Ein Grad der Behinderung von 20 sei also angemessen.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.