Eine fehlende Mitwirkung kann den Grad der Behinderung (GdB) kosten – aber nur, wenn die Behörde sauber arbeitet. Wer seinen Schwerbehindertenausweis nach einer Heilungsbewährung behalten will, muss Auskünfte liefern.
Tut er das nicht, darf das Versorgungsamt den GdB zwar kürzen; allerdings erst nach einem klaren, schriftlichen Warnschuss. Genau das hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden (Az. B 9 SB 1/17 R).
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Eine fehlende Mitwirkung darf nicht pauschal bestraft werden
§ 66 Abs. 3 SGB I verlangt, dass Leistungsträger die drohenden Rechtsfolgen einer Mitwirkungsverweigerung schriftlich, eindeutig und einzelfallbezogen ankündigen. Ein lapidarer Satz wie „Entscheidung nach Aktenlage“ reicht nicht. Der 9. Senat des BSG betont, dass die Formulierung die Warn- und Appellfunktion des Gesetzes erfüllen muss: Die oder der Betroffene soll ohne juristisches Rätselraten erkennen, welche konkrete Absenkung droht und dass sie nur bis zur Nachholung der Mitwirkung gilt.
Krebs, Herzleiden und Bluthochdruck – der Streitfall
Die Klägerin verfügte über einen GesamtGdB von 60: 50 Punkte entfielen auf eine Brustkrebserkrankung, 30 auf eine Wirbelsäulenstörung, 20 auf eine Herzerkrankung und 10 auf Bluthochdruck. Diese Werte waren im Bescheid vom 15. Dezember 2010 festgeschrieben worden.
Aufforderung zur Nachprüfung
Ende 2011 leitete das Amt eine turnusmäßige Prüfung ein: Die fünfjährige Heilungsbewährung für den Tumor neigte sich dem Ende zu. Im März 2012 flatterte ein Fragebogen ins Haus. Zwei Wochen Frist, sonst Entscheidung nach Aktenlage.
Als die Tochter später mitteilte, der Gesundheitszustand der Mutter habe sich drastisch verschlechtert und man müsse von einem GdB 100 plus Merkzeichen G ausgehen, verlangte das Amt weitere Formulare – erhielt aber keine Antwort. Am 27. Juni 2012 senkte es den Brustkrebs-Einzel-GdB von 50 auf 10 und damit den Gesamt-GdB auf 30.
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Entscheidung nach Aktenlage – zu wenig, sagt das BSG
Sowohl Sozial- als auch Landessozialgericht hielten die Kürzung für korrekt; die Frau habe schließlich nicht mitgewirkt. Das BSG hob diese Entscheidungen auf. Es rügte, dass das Amt zwar von seinem Ermessen aus § 66 Abs. 1 SGB I Gebrauch machte, zuvor aber keinen ordnungsgemäßen Hinweis nach Abs. 3 erteilt hatte. Der pauschale Verweis auf „Feststellungen, die nach Aktenlage bestehen bleiben“ lasse Betroffene im Dunkeln und lade zu Spekulationen ein, ob der bisherige GdB vielleicht sogar unangetastet bleibe.
Heilungsbewährung: Warum fünf Jahre entscheidend sind
Die Versorgungsmedizin-Verordnung legt in Teil B 14.1 fest, dass nach einer brusterhaltenden Krebsoperation in der Regel fünf Jahre abgewartet werden, bevor der hohe Tumor-GdB überprüft werden darf. Erst wenn in dieser Zeit kein Rezidiv auftritt, kann der Einzel-GdB auf Werte zwischen 10 und 30 fallen. Diese Frist war hier abgelaufen; gleichwohl entband das den Leistungsträger nicht von seiner Pflicht zu einer korrekten Rechtsfolgenbelehrung.
Rechtsfolgenbelehrung – was zwingend hineinmuss
Der Warnhinweis muss schriftlich erfolgen und klar aussprechen, dass etwa der GdB auf 30 abgesenkt wird, falls innerhalb der gesetzten Frist keine Unterlagen eingehen. Er muss darüber hinaus ausdrücklich erklären, dass diese Kürzung nur so lange gilt, bis die Mitwirkung nachgeholt ist. Erst diese Präzision erfüllt die doppelte Funktion des Hinweises als Weckruf und als rechtliches Gehör.
Rechtsweg und Klageart – warum der Streit nicht automatisch den GdB klärt
Das BSG stellt klar, dass gegen einen auf § 66 SGB I gestützten Entziehungs- oder Versagungsbescheid allein die isolierte Anfechtungsklage zulässig ist. Eine kombinierte Klage auf Feststellung eines höheren GdB scheitert, weil die Behörde gar nicht materiell über die Höhe entschieden hat, sondern nur vorläufig sanktionierte. Damit fokussiert sich das Verfahren ausschließlich auf die Rechtmäßigkeit der behördlichen Verfahrensführung.
Signalwirkung für die Praxis
Für Versorgungsämter bedeutet das Urteil eine Zäsur. Standard-Textbausteine sind riskant, denn schon ein schwammiger Satz kann den gesamten Bescheid zu Fall bringen. Betroffene wiederum sollten Bescheide, die sich nur auf „Aktenlage“ berufen, genau prüfen.
Selbst wer tatsächlich nicht mitgewirkt hat, kann sich erfolgreich wehren, wenn die Rechtsfolgenbelehrung fehlt oder zu allgemein bleibt. Fachanwältinnen und Fachanwälte erhalten zugleich eine Blaupause für die Prozessstrategie: Im Mittelpunkt steht nicht die GdB-Höhe, sondern der formelle Verstoß.