Schwerbehinderte haben Anspruch auf Sprinter bei Mehrfachbehinderung

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Ein mehrfach schwerhinderter Kläger hat vor Gericht einen Sprinter Tourer 317 CDI. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Kraftfahrzeughilfe (Kfz-Hilfe) zu gewähren ist.

Gewährung einer Kraftfahrzeughilfe für einen mehrfach Schwerbehinderten im Rahmen der Eingliederungshilfe

Die Gewährung von Kraftfahrzeughilfe (Kfz-Hilfe) in Form der Übernahme der Kosten für ein behindertengerecht ausgestattetes und umgebautes Kraftfahrzeug im Rahmen der Eingliederungshilfe für einen mehrfach behinderten Antragsteller zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. (Orientierungssatz)

Sozialhilfe – Eingliederungshilfe – Teilhabe am Leben in der Gesellschaft

Leistungen der Kraftfahrzeughilfe sind nach § 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX als Leistungen zur Sozialen Teilhabe zu gewähren, zu denen nach § 113 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX auch Leistungen zur Mobilität gehören.

Zu den Leistungen für ein Kraftfahrzeug gehören u. a. Leistungen für die Beschaffung eines Kraftfahrzeugs sowie für die notwendige Zusatzausstattung, wobei sich die Bemessung der Leistungen nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung richtet, deren §§ 6 und 8 gemäß § 114 Abs. 2 SGB IX keine Anwendung finden.

Nach § 5 Abs. 1 KfzHV wird die Beschaffung eines Kraftfahrzeugs bis zur Höhe des Kaufpreises, höchstens jedoch bis zu einem Betrag von 22.000 Euro gefördert. Die Kosten für eine behinderungsbedingte Zusatzausstattung bleiben bei der Ermittlung unberücksichtigt.

Die Kosten für eine behinderungsbedingte Zusatzausstattung, deren Einbau, die technische Prüfung und die Wiederherstellung der technischen Betriebsbereitschaft werden nach § 7 Satz 1 KfzHV in voller Höhe übernommen.

Die Gewährung von Kraftfahrzeughilfe setzt voraus, dass das Kraftfahrzeug als grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme zur Erreichung der Eingliederungsziele unerlässlich ist (BSG Urteil vom 12.12.2013 -B 8 SO 18/12 R -) und kein geeignetes Kraftfahrzeug zur Verfügung steht.

Die Voraussetzungen für die Gewährung der Kfz-Hilfe zur Beschaffung eines A. Sprinter Tourer 317 CDI sind vorliegend erfüllt.
Denn die angestrebten Eingliederungsziele sind geeignete und angemessene Teilhabeziele, die Nutzung eines Kfz ist geeignet und zur Umsetzung der Teilhabeziele unentbehrlich, der Kläger ist ständig auf ein Kfz angewiesen, es ist kein geeignetes Kfz vorhanden und es besteht ein Anspruch auf das konkret vom der Vorinstanz des SG Düsseldorf ausgeurteilte Kfz inklusive Umbaukosten. So geurteilt vom LSG NRW 12. Senat aus 2024, aktuelle Veröffentlichung.

Die Pflege familiärer Kontakte, die Durchführung von Ausflügen sowie die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen mit anderen ist sozial üblich (LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.04.2019 – L 2 SO 2287/18 -).

Kein genereller Ausschluss von Familienaktivitäten aus der Eingliederungshilfe, so aber die Behörde und teilweise auch die obergerichtliche Rechtsprechung

Denn entgegen dem Urteil des LSG NRW vom 28.05.2015, in dem dieses ausgeführt hat, ein Bezug zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft scheide aus, wenn es einem Leistungsberechtigten in erster Linie darum gehe, seine familiären Kontakte zu intensivieren, nicht aber darum, Kontakte zu anderen – nicht behinderten – Menschen zu fördern oder auszubauen (Urteil vom 28.05.2015, L 9 SO 303/13 ).

Ist das Leben und die Teilhabe in der Familie auch als Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu verstehen (so auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 04.06.2019, L 9 KR 363/17; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.04.2019 – L 2 SO 2287/18 – ).

Nicht die Vorstellungen der Behörde bestimmen den Umfang und die Häufigkeit der Teilhabe des behinderten Menschen, sondern dessen angemessene Wünsche (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R – ).

Denn bei den angegebenen Eingliederungszielen handelt es sich um Aktivitäten, die der Kläger offensichtlich mit Hilfe seiner Eltern durchgeführt hat, bevor das bisherige Fahrzeug seiner Eltern aufgrund seiner Größe und seines Gewichts nicht mehr nutzbar war.

Die Anschaffung eines behindertengerecht umgebauten Kraftfahrzeugs ist geeignet, die Eingliederungsziele des Mehrfachbehinderten zu erreichen. Es ist sichergestellt, dass die Eltern als Dritte das Fahrzeug für den Sohn fahren würden.

Die Anschaffung eines Kraftfahrzeugs ist auch erforderlich, d.h. zur Erreichung der Eingliederungsziele unerlässlich, weil dem Kläger nach § 83 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nicht zugemutet werden kann, andere Beförderungsleistungen in Anspruch zu nehmen und die Teilhabeziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder unter Inanspruchnahme des Behindertenfahrdienstes zu erreichen.

Denn eine Notwendigkeit im Sinne eines Angewiesenseins setzt voraus, dass es dem Betroffenen nicht zumutbar ist, die Teilhabeziele zu Fuß, mit dem ÖPNV und/oder unter Inanspruchnahme des Behindertenfahrdienstes zu verwirklichen (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 2/16 R -).

Die Verwirklichung der Teilhabeziele zu Fuß ist aufgrund der Rollstuhlabhängigkeit und der ländlichen Lage des Wohnortes des Klägers nicht möglich.

Die Inanspruchnahme des Behindertenfahrdienstes zur Verwirklichung seiner Teilhabeziele in der Freizeit sei ihm nicht zumutbar. Denn Art und Schwere der Behinderung müssen kausal für die Unzumutbarkeit sein; infrastrukturelle Nachteile sind unerheblich.

Zwar ist die Inanspruchnahme eines Behindertenfahrdienstes grundsätzlich möglich, wie der Schulweg zeigt. Die Inanspruchnahme in der Freizeit ist ihm jedoch angesichts der konkreten Voraussetzungen und der Verfügbarkeit von Fahrzeugen, die diesen Anforderungen entsprechen, nicht zumutbar.

Nach § 114 Nr. 1 SGB IX ist der behinderte Mensch zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs ständig angewiesen, weil er ohne Kraftfahrzeug seine mehrfach wöchentlich geplanten Eingliederungsziele nicht erreichen kann.

Eine Definition der ständigen Angewiesenheit enthält § 114 SGB IX nicht.

Die Auslegung dieses zum 01.01.2020 in § 114 Nr. 1 SGB IX neu eingeführten Tatbestandsmerkmals ist in der Rechtsprechung noch nicht geklärt (LSG NRW Beschluss vom 09.06.2022 – L 9 SO 353/21 B ER ).

Eine starre zeitliche Vorgabe gibt es nicht nach der Rechtsprechung des BSG

Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten werden solle, nach der ständig nicht nur vereinzelt oder gelegentlich bedeutete (BT-Drucks 18/9522, S. 286).

Mit dem BSG ist auch insofern auf einen individuellen, personenzentrierten Maßstab abzustellen, der einer pauschalierenden Betrachtung entgegensteht (st. Rspr., vgl. etwa BSG Urteile vom 23.08.2013 – B 8 SO 24/11 R; und vom 08.03.2017 – B 8 SO 2/16 R).

Eine starre zeitliche Vorgabe widerspricht der dargestellten Systematik, wonach maßgeblich zur weitmöglichsten Eingliederung in die Gesellschaft ein personenzentrierter Maßstab unter Berücksichtigung der individuellen Lebensverhältnisse ist.

Das Erfordernis des ständigen Angewiesenseins

Das Erfordernis des ständigen Angewiesenseins ist nicht im Sinne einer quantitativen Voraussetzung zu interpretieren, sondern als qualitative Voraussetzung.

Es muss sich um ein Teilhabeziel handeln, das es erforderlich macht, ständig über ein Kfz zu verfügen (LSG NRW Beschluss vom 09.06.2022, L 9 SO 353/21 B ER ).

Insofern kommt es nicht darauf an, ob die leistungsberechtigte Person mit dem Kraftfahrzeug ständig unterwegs ist, es also zeitlich ständig nutzt, sondern es ist entscheidend, dass sie im Rahmen der Nutzung, d.h. zur Verwirklichung der Teilhabeziele, ständig darauf angewiesen ist (so auch Rosenow in Fuchs/Ritz/Rosenow, SGB IX, 7. Auflage 2021, § 114, Rn. 13).

Die konkreten Anforderungen an ein ständiges Angewiesensein sind insofern abhängig von der konkreten Situation, der Schwere der Behinderung und der Erforderlichkeit eines vorhandenen Kfz, um die gewünschten und angemessenen Teilhabeziele zu verwirklichen.

Gemäß § 114 SGB IX i.V.m. § 99 SGB IX besteht auf die Leistungen der Mobilität ein Rechtsanspruch, so dass ein Ermessen der Behörde bezüglich des „Ob“ der Leistung nicht besteht.

Anmerkung Detlef Brock

Hier hat der 12. Senat des LSG NRW mit seinem aktuellem Urteil die Behörde aber ganz schön in die Schranken gewiesen. Vor allem gefällt mir die Auffassung, wonach Generell kein Ausschluss familiärer Aktivitäten von der Eingliederungshilfe anzunehmen ist, so aber viele Gerichte zuvor.