Wer sich nach einem schweren Unfall gezwungen sieht, vorzeitig in Rente zu gehen, musste bislang damit leben, dass die damit verbundenen Abschlรคge lebenslang wirken.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Sicht in einem viel beachteten Urteil (Az. B 13 R 13/17 R) grundsรคtzlich korrigiert: Wird der Rentenversicherungstrรคger fรผr die vorzeitig gezahlte Rente vollstรคndig entschรคdigt, dรผrfen bei der anschlieรenden Regelaltersrente keine Abzรผge mehr vorgenommen werden.
Frรผhverrentung: Privileg und Preis zugleich
Versicherte mit mindestens 35 Versicherungsjahren kรถnnen die Altersrente fรผr langjรคhrig Versicherte bis zu vier Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze beziehen. Doch jeder Monat des Vorziehens verringert den sogenannten Zugangsfaktor um 0,003.
Wer die vollen vier Jahre ausschรถpft, landet bei einem Faktor von 0,856 โ eine Kรผrzung von 14,4 Prozent, die lebenslang gilt. Fรผr jemanden, der regulรคr 1 000 Euro Rente erhielte, blieben nur gut 856 Euro. So soll der Rentenversicherungstrรคger dafรผr entschรคdigt werden, dass die Rente lรคnger flieรt.
Dr. Utz Anhalt erlรคutert das Urteil
Der Unfall, die Rentenkasse und die Haftpflicht
Im entschiedenen Fall erlitt der Versicherte 2003 einen schweren Arbeitsunfall. In der Folge bezog er von 2006 bis 2010 eine vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit mit dem reduzierten Zugangsfaktor 0,847.
Den gesamten Betrag โ einschlieรlich der fiktiven Rentenversicherungsbeitrรคge bis zur Regelaltersgrenze โ erstattete spรคter die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers dem Rentenversicherungstrรคger.
Warum die Abschlรคge trotzdem weiterliefen
Obwohl der Trรคger finanziell vollstรคndig entlastet war, setzte er die Regelaltersrente ab Juni 2010 weiter mit dem geminderten Faktor fest. Die Begrรผndung: ยง 77 Absatz 3 Satz 1 SGB VI schreibe vor, dass der einmal abgesenkte Faktor fortgelte, wenn die Entgeltpunkte bereits Grundlage einer frรผheren Rente gewesen seien. Gleichwohl war die Situation gesetzlich nicht eindeutig geregelt, denn sie war vom Gesetzgeber schlicht nicht bedacht worden.
Argumentation des BSG
Der Dreizehnte Senat des BSG schloss diese planwidrige Lรผcke, indem er ยง 77 Absatz 3 Satz 3 Nummer 1 SGB VI analog anwendete. Die Vorschrift erhรถht den Zugangsfaktor, wenn eine vorgezogene Rente โnicht mehr vorzeitig in Anspruch genommenโ wird โ etwa, weil ein Versicherter doch nicht frรผher in Rente geht.
Dieser Schutzzweck, so das Gericht, greife genauso, wenn ein Haftpflichtversicherer die ausgezahlte Rente vollstรคndig erstatte: Auch dann trage die Rentenversicherung keine Mehrbelastung mehr, sodass der Kรผrzungsgrund entfalle.
Konsequenzen fรผr Rentner
Auf die Rentenversicherung kommen dadurch keine zusรคtzlichen Kosten zu; sie hat ihr Geld bereits erhalten.
Fรผr betroffene Rentner bedeutet das Urteil Rechtssicherheit: Wer unfallbedingt vorzeitig in Rente gehen musste und spรคter eine volle Erstattung bewirkt, kann die Regelaltersrente in ungekรผrzter Hรถhe verlangen. Umgekehrt kรถnnen Kassen Abschlรคge nur durchsetzen, wenn sie tatsรคchlich wirtschaftlich belastet waren.
Was Betroffene jetzt prรผfen sollten
Unfallopfer, die eine frรผhe Altersrente mit Abschlag beziehen oder bezogen haben, sollten klรคren, ob eine Haftpflicht- oder Unfallversicherung den Rentenversicherungstrรคger bereits ausgeglichen hat oder noch ausgleichen wird.
Ist das der Fall, lohnt sich ein Blick in den Bescheid รผber die Regelaltersrente. Ein fortbestehender Abschlag kann rechtswidrig sein und sollte fristwahrend angefochten werden.
Der zweite Blick auf die Unfallrente
Parallel zu den rentenrechtlichen Ansprรผchen kann ein Arbeits- oder Wegeunfall Ansprรผche gegen die gesetzliche Unfallversicherung auslรถsen. Besteht eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfรคhigkeit von mindestens 20 Prozent, zahlt die Berufsgenossenschaft eine Verletztenrente.
Auch private Unfallversicherungen leisten bei anhaltenden Gesundheitsfolgen.
Wer frรผhzeitig in Rente gehen muss, sollte deshalb immer prรผfen lassen, ob neben der gesetzlichen Altersrente eine zusรคtzliche Unfallrente in Betracht kommt; beide Leistungen schlieรen einander nicht aus.
Fazit: Mehr Gerechtigkeit im Rentensystem
Das Urteil des Bundessozialgerichts stรคrkt die Position unverschuldet verunfallter Versicherter. Es stellt klar, dass Abschlรคge kein Strafcharakter zukommt, sondern allein den finanziellen Ausgleich fรผr eine lรคngere Rentenbezugszeit regeln.
Wenn dieser Ausgleich bereits anderweitig hergestellt ist, hat der Versicherte Anspruch auf den vollen Rentenbetrag. Damit schafft das Gericht nicht nur Rechtssicherheit, sondern trรคgt auch zu einem gerechteren Rentensystem bei.