Rente: Millionen Rentner zahlen künftig weniger Krankenkassenbeiträge – Grundsatzurteil

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Mit seinem Urteil (Az. 1 BvR 100/15 und 1 BvR 249/15) hatte das Bundesverfassungsgericht die Weichen für die Beitragserhebung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung bei bestimmten Altersvorsorgeleistungen neu gestellt.

Bislang folgte die Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung für Rentnerinnen und Rentner einer einfachen Logik: Stammen die Leistungen aus einer Pensionskasse, gelten sie als betriebliche Altersversorgung und sind als sogenannte Versorgungsbezüge nach § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V voll beitragspflichtig.

Die Karlsruher Richter haben dieser Betrachtung klare Grenzen gesetzt. Entscheidend ist nicht mehr allein, wer die Leistung auszahlt. Maßgeblich sei, ob die Leistung nach Ende des Arbeitsverhältnisses ohne jeden Arbeitgeberbezug ausschließlich privat weiterfinanziert wurde. Fehlt dieser betriebliche Bezug, darf die Belastung nicht wie bei einer klassischen Betriebsrente erfolgen.

Der Ausgangsfall und der Weg nach Karlsruhe

Anlass des Verfahrens waren zwei Rentner, die während ihrer Berufstätigkeit im Bankgewerbe Mitglieder einer Pensionskasse waren. Nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben führten sie ihre Vorsorgeverträge auf Basis neuer Vereinbarungen privat fort.

Die Fortführung erfolgte ohne Beteiligung des Arbeitgebers; die Beiträge zahlten sie allein. Bei Renteneintritt erhoben die Krankenkassen gleichwohl Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf die gesamten Leistungen der Pensionskasse.

Diese Praxis entsprach der seinerzeit gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das die institutionelle Herkunft der Leistung—die Pensionskasse—zum ausschlaggebenden Kriterium erhoben hatte.

Die beiden Betroffenen gingen gegen diese Einordnung vor, scheiterten zunächst vor den Sozialgerichten und erhoben schließlich Verfassungsbeschwerde. In Karlsruhe bekamen sie Recht.

Die bisherige Linie der Sozialgerichtsbarkeit

Das Bundessozialgericht hatte über Jahre hinweg einen weiten Begriff der „Renten der betrieblichen Altersversorgung“ im Sinne des § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V vertreten. Alle Leistungen einer Pensionskasse galten als Versorgungsbezüge, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber in der Anwartschaftsphase noch Beiträge geleistet hatte oder ob der Vertrag nach dem Beschäftigungsende ausschließlich privat fortgeführt wurde.

Für die Praxis bedeutete das eine pauschale Beitragspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung auf die Bruttorenten aus Pensionskassen—auch in Konstellationen, in denen die spätere Rente wirtschaftlich einer privaten Lebensversicherung sehr nahekam.

Der verfassungsrechtliche Maßstab

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Praxis an Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz gemessen, der die Gleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte verlangt.

Die Karlsruher Richter hielten es für verfassungswidrig, ausschließlich auf die auszahlende Institution abzustellen. Wird ein Versicherungsvertrag nach Ende des Arbeitsverhältnisses auf einer neuen rechtlichen Grundlage geführt, ausschließlich vom ehemaligen Arbeitnehmer finanziert und ohne Beteiligung des früheren Arbeitgebers fortgesetzt, fehlt der betriebliche Bezug.

Eine Gleichbehandlung mit echten Betriebsrenten ist dann nicht gerechtfertigt. Der Gesetzeszweck der besonderen Beitragspflicht—nämlich die Erfassung zusätzlicher, betriebsveranlasster Versorgung—trägt eine solche Einordnung nicht.

Was entschied das Gericht genau?

Das Gericht formuliert eine klare Abgrenzungslinie: Wo nach dem Ende der Beschäftigung eine neue Vereinbarung geschlossen wird, die Fortführung allein privat erfolgt und keinerlei Arbeitgeberbezug mehr besteht, sind die Leistungen im Ergebnis wie solche aus privaten Lebensversicherungen zu behandeln.

Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Beitragshöhe in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung im Rentenalter. Die pauschale Gleichstellung mit Betriebsrenten endet dort, wo die betriebliche Veranlassung tatsächlich entfällt.

Was das für die Praxis bedeutet

Für die Krankenkassen folgt aus dem Urteil eine Prüfungspflicht. Sie müssen klären, ob ein Vertrag, der formal von einer Pensionskasse ausgezahlt wird, materiell noch betriebliche Altersversorgung darstellt oder ob er—aufgrund einer nachträglichen, ausschließlich privat finanzierten Fortführung—den Charakter einer privaten Vorsorge angenommen hat.

Nur im ersten Fall dürfen Beiträge wie auf Versorgungsbezüge erhoben werden. Im zweiten Fall ist eine günstigere beitragsrechtliche Behandlung geboten. Nach damaligen Schätzungen der Aufsicht könnten bis zu rund 1,3 Millionen Versicherte von dieser Differenzierung erfasst sein, weil viele Verträge in der Praxis nach dem Berufsende privat weitergeführt wurden.

Wer profitieren kann

Begünstigt sind vor allem Rentnerinnen und Rentner, die ihre Mitgliedschaft in einer Pensionskasse nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auf neuer Vertragsgrundlage weiterbezahlt haben—ohne jegliche Beteiligung des früheren Arbeitgebers.

Je klarer die Trennung vom ursprünglichen Betriebsverhältnis und je deutlicher die alleinige Arbeitnehmerfinanzierung, desto eher greift die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung mit privaten Lebensversicherungen.

Für klassische Betriebsrenten, bei denen der Arbeitgeber weiterhin prägend bleibt oder in der Anwartschaftsphase wesentlich beigetragen hat, ändert das Urteil nichts: Sie bleiben als Versorgungsbezüge beitragspflichtig.

Wie Betroffene jetzt vorgehen

Betroffene sollten zunächst die Vertragsgeschichte ihrer Altersvorsorge sorgfältig rekonstruieren. Maßgeblich ist, ob nach Ende der Beschäftigung eine neue Vereinbarung getroffen wurde, auf deren Grundlage der Vertrag fortgeführt wurde, und ob sämtliche Beiträge ab diesem Zeitpunkt ausschließlich privat gezahlt wurden. Liegt eine solche Konstellation vor, empfiehlt sich der Antrag auf Überprüfung der Beitragserhebung bei der eigenen Krankenkasse.

Sinnvoll ist, der Kasse die relevanten Unterlagen vorzulegen, also die ursprünglichen und die späteren Vertragsdokumente, Nachweise über die alleinige Beitragszahlung nach Beschäftigungsende und etwaige Korrespondenz zur Vertragsumstellung. In vielen Fällen kann sich auch eine rückwirkende Korrektur ergeben.

Ob und in welchem Umfang Erstattungen möglich sind, hängt von den einschlägigen Fristen und dem Einzelfall ab; die Krankenkasse gibt hierzu Auskunft, und bei komplexen Sachverhalten kann versierter rechtlicher Rat helfen, Ansprüche zu sichern.

Auswirkungen auf Kassen, Unternehmen und Beratung

Für Krankenkassen bedeutet das Urteil einen zusätzlichen Prüfaufwand und die Notwendigkeit, interne Abläufe anzupassen. Standardisierungen, die allein auf die Institution „Pensionskasse“ abstellen, genügen nicht mehr. Arbeitgeber und Versorgungseinrichtungen sollten bei Informationsmaterial und Abwicklung deutlicher herausarbeiten, wann eine Fortführung tatsächlich auf neuer, privater Basis erfolgt und wie sich dies beitragsrechtlich auswirkt.

Für Versicherungsvermittlerinnen und -vermittler sowie Rentenberater steigt die Bedeutung einer präzisen Dokumentation der Vertragsumstellung, weil sie im Streitfall den Ausschlag geben kann.

Grenzen der Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Norm des § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V als solche verworfen. Es hat vielmehr die verfassungskonforme Auslegung eingefordert und die rein institutionelle Betrachtungsweise beanstandet.

Das bedeutet, dass die Beitragspflicht für echte Betriebsrenten bestehen bleibt und nur dort gelockert wird, wo die betriebliche Veranlassung nachweislich entfallen ist. Die Entscheidung ersetzt keine Einzelfallprüfung; sie macht sie erforderlich.

Die Entscheidung stärkt die Systemgerechtigkeit zwischen privater und betrieblicher Vorsorge. Wer nach dem Berufsende faktisch eine private Altersvorsorge betreibt, soll beitragsrechtlich nicht schlechtergestellt werden als jemand, der von vornherein eine private Lebensversicherung bespart hat.

Damit werden Fehlanreize abgebaut, die bislang aus der pauschalen Gleichstellung resultierten, und das Vertrauen in planbare Rahmenbedingungen der Alterssicherung gefestigt.

Zugleich bleibt der sozialpolitische Grundgedanke gewahrt, betriebsveranlasste Zusatzversorgungen grundsätzlich an der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu beteiligen.

Fazit

Das Karlsruher Grundsatzurteil ist ein Wendepunkt in der beitragsrechtlichen Behandlung von Leistungen aus Pensionskassen. Es rückt die materiellen Umstände in den Mittelpunkt und korrigiert eine formalistische Praxis, die viele Rentnerinnen und Rentner unnötig belastete.

Wer seine Altersvorsorge nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses auf neuer Grundlage ausschließlich privat weiterfinanziert hat, darf nicht wie ein Empfänger klassischer Betriebsrenten behandelt werden. Für zahlreiche Betroffene bedeutet das spürbare Entlastungen, die Möglichkeit rückwirkender Korrekturen und vor allem mehr Fairness im Umgang mit unterschiedlichen Vorsorgeformen.

Die Botschaft ist klar: Nicht das Etikett der Institution entscheidet, sondern die Realität des Vertrags.