Ein betriebliches Eingliederungsmanagement ist für alle Arbeitnehmer erforderlich und nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Das entschied das Bundesarbeitsgericht. (2 AZR 716/06) Es ging um eine ordentliche Kündigung wegen Krankheit und darum, ob der Betrieb den Betroffenen weiter beschäftigt.
Inhaltsverzeichnis
Kläger wurde arbeitsunfähig durch Bandscheibenvorfall
Der Kläger arbeitete im beklagten Betrieb als Maschinenbediener. Das Gericht erläutert: „ Zu dieser Tätigkeit gehört es, die zu bearbeitenden Werkstücke per Hand aus Metallbehältern zu entnehmen, in die Bespannvorrichtung der Bearbeitungsmaschine einzulegen, festzuspannen und den Fertigungsprozess zu starten.“
Danach spannte der Kläger das Teil aus und legte es in einen Metallbehälter, transportierte die Metallkisten mit einem Hubwagen mehrere Meter per Hand. Er arbeitete im Stehen und ging kurze Strecken.
Er wurde im März 2002 krank und arbeitsunfähig. Seit Mai 2002 erhielt er Krankengeld und nach dessen Auslaufen Leistungen der Arbeitsverwaltung. Im Februar 2003 wurde eine seiner Bandscheiben operiert. Zwischen Juli und August nahm er an einer ambulanten Reha teil.
Genesung schreitet langsam voran
Der Betrieb fragte schriftlich beim Kläger im September 2003 nach seinem Gesundheitszustand und der voraussichtlichen Dauer seiner Genesung. Er antwortete schriftlich, er leide an einem Bandscheibenvorfall und könne keine konkreten Angaben über seinen Gesundheitszustand leisten, könne aber weiterhin seine Arbeit nicht ausführen.
Sein Leiden sei eher schlimmer geworden als besser, die Operation habe keinen Erfolg gehabt, und eine zweite Operation käme, es sei aber unklar, wann.
Keine Beurteilung durch Betriebsarzt möglich
Der Betrieb lud den Kläger zu einem Sozialgespräch ein, an dem der Betriebsarzt und ein Mitglied des Betriebsrates teilnahmen und bat ihn, seine Krankenunterlagen dabei zu haben. Die Dokumente hatte er beim Gespräch nicht dabei, und der Betriebsarzt konnte deshalb nicht den Gesundheitszustand beurteilen.
Therapien bringen keine Besserung
Im Dezember 2003 begab sich der Kläger zu einer stationären Behandlung in einer Universitätsklinik. Zusätzlich absolvierte er Krankengymnastik und erhielt Massagen. Trotz dieser Maßnahmen und weiterer Therapien stellte sich keine nachhaltige Besserung seines Zustands ein.
Betrieb kündigt ordnungsgemäß wegen Dauererkrankung
Am 6. Oktober 2004 forderte der Betrieb ihn auf, sich bis zum 22. Oktober zu seiner Erkrankung zu äußern und mitzuteilen, wann er voraussichtlich wieder arbeiten könnte.
Es erfolgte bis zum Stichtag keine Reaktion, und der Betrieb informierte den Betriebsrat über eine beabsichtigte ordnungsgemäße Kündigung wegen der Dauererkrankung und der Ungewissheit über eine Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit. Zum 20. April 2005 kündigte der Arbeitgeber dem Kläger.
Kläger geht gerichtlich vor
Der Kläger sah sich gezwungen, gerichtlich vorzugehen und verlangte, weiterhin als Maschinenbediener beschäftigt zu werden. Er begründete dies damit, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt sei.
Laut einem ärztlichen Attest eines Orthopäden sowie einem Wiedereingliederungsplan von Januar 2005 sei seine Gesundheitsprognose “nicht schlecht”. Dem Wiedereingliederungsplan zufolge wäre er ab dem 23. Februar 2005 wieder voll arbeitsfähig.
Sein Arbeitsplatz könne an seine Erkrankung angepasst werden, zum Beispiel durch Sitzgelegenheiten. Dazu sei der Betrieb verpflichtet, laut dem Paragrafen 84, Absatz 2 des Sozialgesetzbuches IX.
Der Kläger hat verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, um die Kündigung zu umgehen
Die Kündigung sei unwirksam, da kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt wurde, das ihm eine Weiterbeschäftigung im Betrieb ermöglicht hätte. Er habe verschiedene Anpassungen vorgeschlagen, die es ihm erlaubt hätten, seine Arbeit trotz der gesundheitlichen Einschränkungen weiterhin auszuführen.
Dazu gehörten etwa eine Arbeit als Etikettierer in der Versandhalle, bei der er im Wechsel stehen, gehen und sitzen könne und keine Zwangshaltung einnehmen, schwere Lasten tragen oder sich häufig bücken müsse. Auch die lange Betriebszugehörigkeit falle zu seinen Gunsten aus.
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Medizinisches Gutachten bestätigt Kündigungsgrund
Der Betrieb als Beklagter hielt dagegen. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, denn zu ihrem Zeitpunkt sei nicht damit zu rechnen gewesen, dass sich die Gesundheit verbessere. Die Arbeitsunfähigkeit bestünde fort, und der Kläger könne auf absehbare Zeit seiner im Arbeitsvertrag vereinbarten Leistung nicht nachkommen.
Dies sei durch ein medizinisches Gutachten bestätigt. Das Betriebsinteresse sei erheblich beeinträchtigt, weil der Betroffene seit Jahren nicht mehr in seiner Tätigkeit eingesetzt werden könnte.
Bundesarbeitsgericht erwartet umfangreichere Prüfung
Der Fall ging bis zur Revision vor dem Bundesarbeitsgericht. Dieses erwies den Fall zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht. Dem BAG zufolge müsse eine ordentliche Kündigung in mehreren Schritten geprüft werden, wenn sie aufgrund einer lang anhaltenden Erkrankung ausgesprochen wird.
Für die Kündigung muss eine negative Prognose vorliegen
Zunächst müsse eine negative Prognose über den zukünftigen Gesundheitszustand des Erkrankten vorliegen. Diese müsse auf objektiven Tatsachen beruhen, die eine berechtigte Sorge vor einer langfristigen Erkrankung begründen. Zusätzlich müsse diese Prognose sowohl den Zeitpunkt der Kündigung als auch die bisher ausgeübte Tätigkeit betreffen.
Eine negative Prognose sei berechtigt, wenn die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung überhaupt nicht mehr zu erbringen oder es gänzlich ungewiss sei, sie wiederherzustellen. Als absehbare Zeit würden juristisch 24 Monate gelten.
Betriebsinteressen müssen erheblich beeinträchtigt sein
Wörtlich heißt es: „Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung sozial zu rechtfertigen, wenn die zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen.“
Bei dauernder Leistungsunfähigkeit und völliger Ungewissheit über eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei von einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen auszugehen.
Kündigung ist unwirksam, wenn mildere Maßnahmen möglich sind
Könne eine Kündigung aber durch mildere Maßnahmen vermieden werden, dann sei sie unverhältnismäßig und unwirksam. Der Arbeitgeber müsse das Mittel wählen, dass das Arbeitsverhältnis und den Arbeitnehmer am wenigsten belastet. Alle „gleichwertigen, leidensgerechten Arbeitsplätze“ seien „in Betracht zu ziehen und ggf. “freizumachen“.
BSG: Kündigung ist nicht verhältnismäßig
Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für eine krankheitsbedingte Kündigung vorliegen, trüge der Arbeitgeber. Es hat keinen Nachweis gegeben, dass eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung nicht möglich sei. Damit sei die Kündigung nicht verhältnismäßig.
Der Arbeitgeber hat bei einem Beschäftigten, der länger als sechs Wochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist, die Möglichkeit, mit dem Betroffenen und dessen Interessenvertretung zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann.
Maßnahmen zur Eingliederung gelten nicht nur bei Behinderung
Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass die Pflicht zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nicht nur für Menschen mit Behinderungen gilt, sondern für alle Arbeitnehmer.
Diese Maßnahmen dienen letztlich dazu, Kündigungen zu vermeiden und Arbeitslosigkeit von erkrankten oder gesundheitlich beeinträchtigten Mitarbeitern zu verhindern. Ein fehlendes Eingliederungsmanagement würde einer Kündigung jedoch dann nicht entgegenstehen, wenn auch ein solches Management die Kündigung nicht hätte verhindern können.
Ohne ein solches Management müsste der Arbeitgeber konkret vortragen, warum es nicht möglich ist, den Arbeitnehmer auf einem alternativen Arbeitsplatz einzusetzen oder den bisherigen Arbeitsplatz leidensgerecht zu verändern.
Arbeitgeber bleibt Nachweis schuldig
Das habe in diesem Fall der Arbeitgeber bisher nicht erbracht. Der Kläger hätte sich hingegen ausdrücklich auf beide Punkte berufen und Vorschläge dazu gemacht. Die von ihm genannten Möglichkeiten kämen in Betracht als mildere und damit vorrangig zu berücksichtigende Mittel.
Das Gericht führte aus: „So fehlt es schon an einem dezidierten Sachvortrag der Beklagten, warum eine leidensgerechte Gestaltung des bisherigen Arbeitsplatzes (Stichworte: Sitzgelegenheit, halb volle Transportwagen) nicht möglich sein soll und eine entsprechende Anpassung des Arbeitsplatzes nicht zu einer signifikanten Reduzierung der Fehlzeiten des Klägers führen könnte.“
Die Feststellungen seien unzureichend, und der Arbeitgeber bekäme die Gelegenheit, seine Punkte zu (und gegen) einem möglichen leidensgerechten und umgestalteten Arbeitsplatz vorzutragen.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.