Höhere Abfindung für Gekündigte mit Schwerbehinderung

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Ob ein Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung im Falle einer betriebs‑, personen‑ oder verhaltensbedingten Kündigung mehr Abfindung für den Verlust seines Arbeitsplatzes erhält, hängt in Deutschland nicht von einer pauschalen gesetzlichen Zuschlagsregel ab.

“Dennoch fällt die Abfindung in der Praxis sehr häufig höher aus als bei nicht schwerbehinderten Kollegen”, sagt der Fachanwallt für Arbeitsrecht, Christian Lange, aus Hannover. Das liegt an dem erweiterten Kündigungsschutz, komplexen Genehmigungsverfahren und jüngster Rechtsprechung, die das wirtschaftliche Risiko auf Arbeitgeberseite erheblich steigen lässt.

Wie beeinflusst der besondere Kündigungsschutz die Verhandlungsposition?

Schwerbehinderte Beschäftigte unterliegen nach § 168 SGB IX einem besonderen Kündigungsschutz. Der Arbeitgeber darf eine Kündigung erst aussprechen, nachdem das Integrationsamt zugestimmt hat; ohne diesen Verwaltungsakt ist die Kündigung nichtig.

Die Zustimmungspflicht verlängert nicht nur das Verfahren, sie öffnet auch ein zusätzliches taktisches Spielfeld: Gegen den Genehmigungsbescheid kann der Arbeitnehmer Widerspruch einlegen und anschließend Klage erheben.

Parallel dazu bleibt der Weg der klassischen Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht offen. Schon die bloße Aussicht auf zwei parallele Verfahren mit offener Dauer schafft ein erhebliches Prozesskosten‑ und Weiterbeschäftigungsrisiko für den Arbeitgeber.

Integrationsamt muss bei Kündigungen prüfen

Das Integrationsamt prüft, ob die Kündigung ausnahmsweise zulässig ist oder dem präventiven Schutzgedanken des Gesetzes widerspricht.

Es untersucht insbesondere, ob sich der Kündigungsgrund aus der Behinderung herleitet, ob zumutbare leidensgerechte Arbeitsplatzanpassungen denkbar sind und ob der Betriebsrat beziehungsweise die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß beteiligt wurden.

Die Entscheidungsfrist beträgt in der Praxis mehrere Wochen; bei außerordentlichen Kündigungen gelten starre Zwei‑Wochen‑Fristen, allerdings bleibt auch hier der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

In dieser Zeit trägt das Unternehmen Lohnkosten weiter, kann den Mitarbeiter in der Regel nicht freistellen und weiß nicht, ob es die Zustimmung überhaupt erhält.

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Welche Auswirkungen haben Sozialpläne auf die Abfindungshöhe?

Existiert ein Sozialplan, fließt die Schwerbehinderung bereits in die Berechnungsformeln ein. Die Betriebsparteien gewichten üblicherweise Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten – und ergänzen für schwerbehinderte Menschen einen Zuschlagsfaktor oder einen festen Sockelbetrag.

Nach ständiger Rechtsprechung unterliegt dieser Zusatz gerade keiner allgemeinen Deckelung. “Das Bundesarbeitsgericht hat 2022 entschieden, dass ein spezieller Zuschlag für Schwerbehinderte nicht in eine Höchstbetragsklausel hineingerechnet werden darf”, so Lange.

Damit steigt die garantierte Mindestabfindung im Sozialplan automatisch an. Für Arbeitnehmer bedeutet das eine stärkere Startposition in anschließenden individuellen Verhandlungen.

Welche Rechtsprechung gibt den Ausschlag?

Die BAG‑Entscheidung 1 AZR 129/21 hat den Weg für ungekappte Zusatzabfindungen geebnet und damit den Kostenvorbehalt der Arbeitgeber weiter erhöht.

Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass Sozialpläne behinderte Arbeitnehmer nicht mittelbar benachteiligen dürfen. Kombiniert mit der Zustimmungspflicht des Integrationsamts zeichnet sich somit eine deutliche Linie ab: Wo ein objektiv höheres Entlassungsrisiko vorliegt, ist eine angemessene monetäre Kompensation legitim und regelmäßig durchsetzbar.

Wie laufen Verhandlungen in der Praxis ab?

Weil es keine gesetzliche Regelung gibt, entscheidet letztlich die Verhandlungstaktik. Arbeitnehmer‑ oder Betriebsratsvertreter verweisen auf die lange Prozessdauer und den Doppelweg über Verwaltungs‑ und Arbeitsgericht.

Sie schätzen für den Arbeitgeber das Szenario des Prozessverlusts ab: eine Rückkehr des Mitarbeiters in den Betrieb nach Jahren oder eine dann möglicherweise noch höhere Vergleichssumme. Arbeitgeber wiederum kalkulieren, ob ein einmalig höherer Abfindungsbetrag günstiger ist als fortlaufende Gehalts‑, Prozess‑ und Anwaltskosten – plus das Risiko einer Rücknahme der Kündigung.

“Genau dieser ökonomische Druck erklärt, warum die Abfindung für Schwerbehinderte häufig deutlich über dem branchenüblichen Faktor von 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr liegt”, sagt der Anwalt.

Welche strategischen Erwägungen stellen Arbeitgeber an?

Unternehmen wägen nicht nur betriebswirtschaftliche, sondern auch reputationsrechtliche Aspekte ab. Ein öffentlichkeitswirksamer Streit über die Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters beschädigt das Employer‑Branding, während eine einvernehmliche Lösung – etwa im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs – oft als geringeres Übel erscheint.

Allerdings verfolgen manche Arbeitgeber die gegenteilige Strategie: Sie möchten Präzedenzfälle vermeiden und setzen auf harte Linie, um Nachahmungseffekte im Betrieb zu verhindern. In solchen Fällen dauert der Konflikt länger und endet nicht selten mit einer richterlich diktierten Weiterbeschäftigungspflicht – was die Abfindung im Erfolgsfall weiter in die Höhe treiben kann.

Gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf eine höhere Abfindung?
Ein zwingender Rechtsanspruch auf Zuschläge ausschließlich wegen der Schwerbehinderung besteht nicht. Weder das Kündigungsschutzgesetz noch das SGB IX benennen feste Abfindungssätze.

Lediglich im Sozialplan oder Tarifvertrag können verbindliche Summen oder Prozentsätze vereinbart sein. Der besondere Kündigungsschutz funktioniert deshalb in erster Linie als Verhandlungshebel: Er erhöht die Eintrittswahrscheinlichkeit, dass Abfindungen überhaupt angeboten und anschließend spürbar aufgestockt werden.

Welche Optionen haben Betroffene im Konfliktfall?

Wer eine Kündigung erhält, muss binnen drei Wochen Kündigungsschutzklage einreichen – auch Schwerbehinderte dürfen diese Frist keinesfalls verstreichen lassen.

Parallel sollte der Genehmigungsbescheid des Integrationsamts geprüft und gegebenenfalls mit Widerspruch angefochten werden. In der Regel führen beide Verfahren in einen gerichtlichen Vergleich, der eine Abfindung festschreibt. Für die Betroffenen ist es ratsam, spezialisierte Rechtsvertretung einzuschalten, da sowohl arbeits‑ als auch verwaltungsrechtliches Know‑how gefragt ist.

Was bedeutet das alles für die Praxis?

Die Antwort auf die Ausgangsfrage lautet mithin: Ja, die Abfindung ist bei schwerbehinderten Menschen typischerweise höher – nicht aufgrund eines pauschalen Zuschlags, sondern weil der besondere Kündigungsschutz die wirtschaftliche Risikolage des Arbeitgebers verschärft. W

er die Mechanismen des Sozialplans, der Integrationsamtszustimmung und der aktuellen Rechtsprechung kennt, kann dieses Risiko realistisch beziffern und in harten, aber fairen Verhandlungen in eine höhere Einmalzahlung umwandeln. Schwerbehinderte Beschäftigte haben damit ein wirkungsvolles Instrument, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Kündigung abzufedern.