Grad der Behinderung: Einschränkungen entscheiden, nicht die Lebensgeschichte

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Um einen Grad der Behinderung festzustellen, sind die gegenwärtigen Funktionseinschränkungen entscheidend, nicht die Herkunft, nicht die biografischen Erfahrungen und nicht der kulturelle Hintergrund. So entschied das Sozialgericht Stuttgart (S 13 SB 6115/07)

Depressionen und Bewegungseinschränkungen

Die Betroffene stammt aus der Türkei. Sie leidet an einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung. Hinzu kommen Depressionen und Einschränkungen in den Bewegungen. Sie hatte einen anerkannten Grad der Behinderung von 50.

Sie klagte vor dem Sozialgericht, um einen Grad der Behinderung von mindestens 80 zu erwirken.

Gutachten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen

Bei einem Grad der Behinderung werden verschiedene Einzelgrade der Behinderung ermittelt und dann wird beurteilt, ob diese nebeneinander stehen oder sich gegenseitig beeinflussen.

Mehrere Einzelgrade können zu einem höheren Gesamtgrad der Behinderung führen, müssen es aber nicht, wenn die jeweiligen Einschränkungen keine Auswirkungen aufeinander haben.

Drei medizinische Gutachten brachten in diesem Fall zwei unterschiedliche Ergebnisse.

Orthopädie gegen Neurologie

So beurteilte ein amtlicher Gutachter den Gesamtgrad der Behinderung aus orthopädischer Perspektive mit 50. Auf Antrag der Klägerin erfolgte ein weiteres orthopädisches und zusätzlich ein neurologisches Gutachten.

Das zweite orthopädische Gutachten erkannte ebenfalls einen Gesamtgrad der Behinderung von 50. Des nervenärztliche Gutachten wich davon jedoch ab.

Problematische Kindheit führt zu höheren Grad der Behinderung

Die Neurologin erläuterte ausführlich die problematische Kindheitsgeschichte der Klägerin in der Türkei und kam unter anderem deswegen zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 100.

“Es geht nicht um die Ursache, sondern um die Einschränkung”

Das Sozialgericht folgte dem neurologischen Gutachten nicht und wies die Klage ab. Es begründete dies damit, dass es bei einem Grad der Behinderung auf die konkreten gegenwärtigen Funktionseinschränkungen ankomme.

Diese würden unabhängig von der Ursache gelten. Ein kultureller Hintergrund und die Lebensgeschichte der behinderten Menschen sei regelmäßig nicht erheblich.

Das gelte auch in diesem Fall, und somit sei ein Grad der Behinderung von 50 angemessen.

Was lässt sich aus dem Urteil lernen?

Viele Betroffene wissen nicht, dass Sozialgerichte den medizinischen Gutachten zur Bestimmung des Grades der Behinderung nicht folgen müssen, sondern auch anders entscheiden können.

In diesem Fall hat sich das Sozialgericht zum einen klar an den Definitionen und Bestimmungen des Behindertenrechts orientiert. Demzufolge geht es tatsächlich immer darum, wie die Betroffenen durch ihre Einschränkung konkret und gegenwärtig an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden.

Der Grad der Behinderung gibt das Ausmaß dieser Behinderungen ab, nicht aber, wie die Beeinträchtigungen zustanden kamen.

Anders hätte das Urteil möglicherweise ausgesehen, wenn das neurologische Gutachten zwar auf die Lebensgeschichte eingegangen wäre, dies aber zum Anlass genommen hätte, warum in der Gegenwart eine stärkere Behinderung vorliegt als mit dem Grad der Behinderung von 50 anerkannt ist.

Dabei hätte dann konkret nachgewiesen werden müssen, wie sich die vermutlich durch Kindheitserfahrungen ausgelösten Depressionen und die Persönlichkeitsstörung aktuell auswirken.