Erwerbsminderung: Trotz Schwerbehinderung keine EM-Rente

Lesedauer 6 Minuten

Der Fall eines 1969 geborenen Industrie-Schweißers zeigt drastisch, wie hoch die Hürden für eine Erwerbsminderungsrente liegen. Obwohl der Mann an zahlreichen Erkrankungen leidet, spricht ihm das Bayerische Landessozialgericht die Rente ab. (L 19 R 540/19) Für viele Erwerbsgeminderte wirkt das wie ein Schlag ins Gesicht – und macht deutlich, worauf Gerichte und Rentenversicherung tatsächlich schauen.

Ein Leben voller Arbeit – und plötzlich geht nichts mehr

Der Kläger arbeitet viele Jahre hart körperlich: zuerst als Schiffbauer, später als Blechschlosser, Monteur und schließlich als Industrie-Schweißer. Seit 2016 kann er seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben und gilt als arbeitsunfähig. Nach der Aussteuerung bei der Krankenkasse meldet er sich bei der Agentur für Arbeit und erhält Arbeitslosengeld nach der Nahtlosigkeitsregelung.

Seine gesundheitliche Situation verschlechtert sich Schritt für Schritt. Die Behörden erkennen zunächst einen Grad der Behinderung von 30 an, später nach einem Rechtsstreit einen Grad von 50.

Viele Diagnosen – aber aus Sicht des Gerichts noch arbeitsfähig

Mehrere Ärztinnen und Ärzte untersuchen den Mann über Jahre hinweg. Orthopäden, Neurologen, Psychiater und Psychologen dokumentieren Bandscheibenvorfälle, Gelenkverschleiß, Fibromyalgie, chronische Schmerzen, depressive Episoden und kognitive Einschränkungen.

Reha-Kliniken und Tageskliniken behandeln ihn stationär und teilstationär, entlassen ihn aber immer wieder mit der Einschätzung, er könne leichte bis mittelschwere Tätigkeiten noch mehrere Stunden täglich ausüben.

Wesentlich für das Gericht bleibt dabei ein zentraler Punkt: Der Kläger kann zwar seinen früheren schweren Beruf als Schweißer nicht mehr ausüben, soll aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten können. Genau an dieser Stelle entscheidet sich, ob eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung in Betracht kommt.

Was das Gesetz zur Erwerbsminderungsrente verlangt

Das Sozialgesetzbuch VI legt sehr genau fest, wann die Rentenversicherung eine Rente bewilligt. Voll erwerbsgemindert ist eine Person nur dann, wenn sie aufgrund von Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit weniger als drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann. Kann jemand zwischen drei und unter sechs Stunden arbeiten, liegt eine teilweise Erwerbsminderung vor.

Die Rentenversicherung lehnt ab – und der Streit beginnt

Der Mann beantragt 2018 eine Rente wegen Erwerbsminderung und betont seine massiven Rückenbeschwerden, Depressionen, Schwindel, Konzentrationsstörungen und den Hörsturz.

Die Prüfärztinnen der Rentenversicherung kommen jedoch nach Aktenlage zu dem Ergebnis, dass er zwar seinen letzten Beruf nicht mehr schafft, aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann.

Mit diesem Argument lehnt die Rentenversicherung den Antrag ab. Der Kläger legt Widerspruch ein, bleibt aber ohne Erfolg. Also klagt er vor dem Sozialgericht Würzburg – und verliert. Er legt Berufung ein und zieht vor das Bayerische Landessozialgericht. Dort kämpft er weiter um die Anerkennung als voll erwerbsgemindert.

Gutachten gegen Gutachten

Im Verlauf des Verfahrens entstehen mehrere umfangreiche Gutachten. Eine Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sieht zwar klare Einschränkungen, aber kein so stark gemindertes Leistungsvermögen, dass weniger als sechs Stunden Arbeit täglich möglich wären.

Auf Antrag des Klägers erstellt ein Orthopäde ein weiteres Gutachten. Aus seiner Sicht kann der Mann nur weniger als drei Stunden täglich arbeiten. Er betont, dass schon der übliche Zeitdruck im Arbeitsleben zu einer Überforderung und Erschöpfung des gesamten Organismus führe.

Die Rentenversicherung kritisiert dieses Gutachten scharf. Sie argumentiert, der Orthopäde überschreite sein Fachgebiet, wenn er psychische und psychosomatische Aspekte zur Begründung der zeitlichen Leistungsminderung heranzieht.

Psychische Erkrankungen im Fokus

Das Gericht zieht ein weiteres Gutachten im neurologisch-psychiatrischen Bereich hinzu. Ein Psychiater beschreibt zwar eine mittelgradige depressive Störung, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie multiple orthopädische Erkrankungen. Trotzdem hält auch er den Mann für fähig, leichte bis zeitweise mittelschwere Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten.

Auf Antrag des Klägers folgt schließlich ein besonders ausführliches Gutachten eines Professors für Neurologie und Psychiatrie. Eine Neuropsychologin testet außerdem Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis und mentale Flexibilität und stellt deutliche kognitive Defizite fest.

Der Professor beschreibt eine weitgehend chronifizierte Depression, erhebliche Antriebsstörungen, Schlafstörungen, Insuffizienzgefühle, soziale Isolation und eine sehr negative Weltsicht.

Er betont, der Kläger sei zwar äußerlich im Gespräch relativ stabil, aber die Tests zeigten deutlich, dass seine Ausdauer, Konzentration und geistige Leistungsfähigkeit stark abfallen. Aus seiner Sicht kann der Mann keine Leistung von wirtschaftlichem Wert mehr erbringen und ist quantitativ unter drei Stunden täglich einsatzfähig.

Warum das Gericht der strengeren Einschätzung nicht folgt

Trotz dieser deutlichen Worte überzeugt das letzte Gutachten den Senat nicht vollständig. Die Richterinnen und Richter erkennen zwar an, dass beim Kläger psychische und kognitive Einschränkungen vorliegen. Sie sehen jedoch weiterhin Zweifel, ob diese Einschränkungen tatsächlich so gravierend sind, dass er selbst unter angepassten Bedingungen nur noch weniger als sechs Stunden täglich arbeiten kann.

Das Gericht betont, dass neuropsychologische Tests stark von der Mitwirkung abhängen. Wer seine Anstrengungsbereitschaft reduziert, kann das Ergebnis beeinflussen, ohne dass sich dies immer sicher nachweisen lässt. Außerdem verweisen die Richterinnen und Richter darauf, dass die Beschreibungen des Alltags des Klägers zwar Antriebsschwäche, aber dennoch eine grundsätzliche Alltagsbewältigung erkennen lassen.

Beweislast: Wer eine Erwerbsminderungsrente will, muss sie „beweisen“

Das Gericht stellt klar: Wer eine Erwerbsminderungsrente beantragt, muss die gesundheitlichen Einschränkungen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit so nachweisen, dass nur noch eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit bleibt. Bleiben nach Auswertung aller Gutachten begründete Zweifel, gehen diese zu Lasten der Versicherten.

Im Fall des Klägers sieht der Senat zwar viele Erkrankungen und eine deutliche Belastung. Er erkennt aber kein zweifelsfrei nachgewiesenes Absinken der Leistungsfähigkeit auf unter sechs Stunden täglich bei leichten bis mittelschweren Tätigkeiten. Deshalb verneint er sowohl die volle als auch die teilweise Erwerbsminderung.

Keine Rente trotz Summierung zahlreicher Leiden

Das Gericht prüft außerdem, ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt. Die Rechtsprechung kennt sogenannte „Katalogfälle“, in denen auch ohne eindeutig quantifizierbare Stundenreduzierung eine Rente möglich sein kann, zum Beispiel bei einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen.

Auch hier sieht der Senat aber keine ausreichenden Anhaltspunkte. Aus Sicht des Gerichts lassen sich genügend einfache Tätigkeiten finden, in denen der Betroffene arbeiten könnte.

Konsequenz: Weder volle noch teilweise Erwerbsminderungsrente

Am Ende weist das Bayerische Landessozialgericht die Berufung zurück. Der Kläger erhält keine Rente wegen voller Erwerbsminderung, weil das Gericht ein Restleistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten annimmt. Auch eine teilweise Erwerbsminderungsrente scheidet aus, weil dafür eine Leistungsfähigkeit von nur drei bis unter sechs Stunden vorliegen müsste.

Was Erwerbsgeminderte aus diesem Fall lernen können

Der Fall zeigt, dass viele Diagnosen und ein anerkannter Grad der Behinderung allein nicht automatisch zu einer Erwerbsminderungsrente führen. Gerichte prüfen sehr genau, wie viele Stunden täglich noch Arbeit möglich ist und unter welchen Bedingungen. Sie erwarten konsistente medizinische Unterlagen, nachvollziehbare Befunde und gut begründete Gutachten über längere Zeiträume hinweg.

Es reicht nicht, Schmerzen und Erschöpfung zu schildern. Entscheidend ist, ob Ärztinnen und Ärzte und Sachverständige konkret beschreiben, welche Tätigkeiten noch möglich sind und ab wann die Belastung zu groß wird. Bleibt hier ein Restzweifel, entscheidet das Gericht gegen die Betroffenen.

FAQ: Häufige Fragen zur Erwerbsminderungsrente

Wann bekomme ich eine Rente wegen voller Erwerbsminderung?
Eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten Sie grundsätzlich nur, wenn Sie auf nicht absehbare Zeit weniger als drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können.

Dabei bewertet die Rentenversicherung nicht nur Ihren bisherigen Beruf, sondern alle Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt theoretisch in Betracht kommen. Entscheidend ist, wie viele Stunden Sie unter üblichen Bedingungen noch arbeiten können.

Reicht eine Schwerbehinderung oder ein hoher GdB für die Erwerbsminderungsrente aus?
Ein anerkannter Grad der Behinderung oder eine Schwerbehinderung verbessert Ihre rechtliche Stellung, ersetzt aber nicht den Nachweis einer geminderten Erwerbsfähigkeit.

Die Rentenversicherung und die Gerichte prüfen getrennt, wie lange Sie täglich noch arbeiten können. Im vorliegenden Fall lag ein GdB von 50 vor, trotzdem verneinte das Gericht eine Erwerbsminderung, weil es noch ein Restleistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich sah.

Wie wichtig sind ärztliche Gutachten und Befundberichte?
Gutachten und Befundberichte bilden das Rückgrat jeder Entscheidung über eine Erwerbsminderungsrente. Die Gerichte stützen sich fast ausschließlich auf diese medizinischen Unterlagen, wenn sie Ihr Leistungsvermögen beurteilen.

Unterschiedliche Einschätzungen – etwa zwischen behandelnden Ärzten und unabhängigen Gutachtern – führen oft dazu, dass Gerichte genau abwägen und sich am Ende denjenigen Gutachten anschließen, die sie für besonders schlüssig und umfassend halten.

Welche Rolle spielen psychische Erkrankungen wie Depression oder Fibromyalgie?
Psychische Erkrankungen, chronische Schmerzstörungen und Fibromyalgie können die Erwerbsfähigkeit erheblich einschränken, werden aber häufig besonders kritisch geprüft. Gerichte schauen genau hin, ob die Beschwerden noch beeinflussbar sind und ob objektive Befunde – etwa neuropsychologische Tests – die geschilderten Einschränkungen stützen.

In diesem Fall erkannte das Gericht zwar eine Depression an, sah aber die funktionellen Einbußen nicht als so gravierend an, dass weniger als sechs Stunden Arbeit am Tag möglich wären.

Was kann ich tun, wenn die Rentenversicherung meinen Antrag ablehnt?
Nach einer Ablehnung können Sie Widerspruch einlegen und weitere ärztliche Unterlagen beibringen. Lehnt die Rentenversicherung auch den Widerspruch ab, können Sie Klage vor dem Sozialgericht erheben und später gegebenenfalls in Berufung gehen.

Wichtig bleibt, dass Sie Ihre Erkrankungen konsequent behandeln lassen, alle Therapien dokumentieren und Ihre Einschränkungen möglichst konkret schildern. Je genauer Gutachten und Befunde Ihr tatsächliches Leistungsvermögen beschreiben, desto besser stehen Ihre Chancen.

Was bedeutet dieses Urteil für Erwerbsgeminderte

Dieses Urteil macht schmerzlich deutlich, wie streng Gerichte die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente auslegen. Entscheidend bleibt, ob sich eindeutig nachweisen lässt, dass Sie unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes weniger als sechs beziehungsweise weniger als drei Stunden täglich arbeiten können.

Für Erwerbsgeminderte bedeutet das: Sie sollten ihre gesundheitlichen Einschränkungen so genau wie möglich dokumentieren und sich nicht allein auf Diagnoselisten oder Behinderungsgrade verlassen. Alltagsschilderungen, Berichte über gescheiterte Arbeitsversuche, detaillierte funktionelle Beschreibungen und langfristige fachärztliche Betreuung können helfen, ein glaubwürdiges Gesamtbild zu zeichnen.

Auch wenn dieses Urteil auf den ersten Blick mutlos macht, zeigt es doch, an welchen Stellen Sie ansetzen können, um Ihre Situation besser zu belegen und Ihre Rechte konsequent zu verfolgen.