Ein Busfahrer und dessen Verkehrsbetrieb haften nicht fรผr den Sturz einer Gehbehinderten, wenn die Gehbehinderung nicht offen ersichtlich ist, und der Fahrer darรผber nicht informiert wurde. So urteilte das Oberlandesgericht Hamm. (11 U 57/17)
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“Betroffene mรผssen den Fahrer ansprechen”
Laut dem Gericht darf ein Busfahrer anfahren, bevor ein -laut Schwerbehindertenausweis- gehbehinderter Fahrgast seinen Sitzplatz eingenommen hat. Allein die Vorlage des Ausweises mit dem Merkzeichen G wรผrde den Fahrer nicht zu einer besonderen Rรผcksichtnahme verpflichten.
Vielmehr mรผsse der oder die Betroffene auf seine oder ihre Gehbehinderung ansprechen und den Fahrer darum bitten, mit dem Anfahren zu warten, bis er oder sie den Platz eingenommen hรคtte.
Schwerbehinderung ohne Gehhilfen
Die Klรคgerin ist 60 Jahre alt, hat aufgrund eines Hรผftschadens einen Grad der Behinderung von 100 und zudem das Merkzeichen G im Ausweis, das eine Gehbehinderung kennzeichnet. Sie stieg in Herne im April 2016 in einen Linienbus ein.
Sie benutzte an diesem Tag keine Gehhilfen, die ihre Einschrรคnkung offen sichtbar gemacht hรคtten und bestieg den Bus ohne fremde Hilfe. Sie zeigte ihren Schwerbehindertenausweis vor, erwรคhnte allerdings nicht ihre Gehbehinderung und bat den Fahrer auch nicht, wegen dieser Enschrรคnkung besondere Rรผcksicht zu nehmen.
Sturz beim Anfahren
Sie setzte sich nicht auf einen Platz direkt hinter dem Fahrer, der explizit fรผr Schwerbehinderte ausgewiesen war, sondern wollte einen Sitzplatz in der Nรคhe des Ausstiegs einnehmen.
Bevor die Betroffene sich dort jedoch gesetzt hatte, fuhr der Bus an. Die Betroffene stรผrzte und brach sich dabei den Oberschenkel.
Die Betroffene fordert Schmerzensgeld
Sie forderte von dem Verkehrsbetrieb sowie dem Busfahrer Schadensersatz. Dazu gehรถrten erstens ein Schmerzensgeld von 11.500 Euro, und zweitens der Ausgleich eines Hausfรผhrungsschadens von 4.500 Euro.
Sie begrรผndete dies damit, dass der Busfahrer mit dem Anfahren hรคtte warten mรผssen, bis sie sich gesetzt hรคtte. Darauf hรคtte sie ihn mit dem Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises hingewiesen.
Die Klage ist erfolglos
Zwei Instanzen wiesen die Klage ab, zuerst das Landesgericht Bochum, und dann das Oberlandesgericht Hamm, und beide folgten der gleichen Begrรผndung.
“Betroffene trifft eine Mitschuld”
Erstens, so die Gerichte, habe sich ein Fahrgast unmittelbar nach dem Zusteigen in eine Bahn oder einen Bus einen sicheren Stand, einen Sitzplatz sowie einen sicheren Halt zu verschaffen.
Wer dies besonders in der gefahrentrรคchtigen Phase des Anfahrens versรคume, den oder die treffe (im Falle eines Unfalls) eine erhebliche Mitschuld. Diese รผbersteige regelmรครig und vรถllig die Betriebsgefahr der Verkehrsmittel.
Die Klรคgerin habe gegen diese Verantwortung zur Eigensicherung verstoรen. Sie habe weder einen freien Sitzplatz im Einstiegsbereich eingenommen noch sich beim Anfahren hinreichend festgehalten.
Zweitens habe sie den Busfahrer nicht darum gebeten, mit dem Anfahren zu warten, bis sie Platz genommen hatte.
“Keine Mitschuld des Busfahrers”
Hingegen sei, so das Gericht, keine Schuld des Busfahrers erkennbar. Ein Busfahrer habe auf andere Verkehrsteilnehmer und รคuรere Fahrtsignale zu achten. Von ihm sei regelmรครig nicht zu verlangen, dass er einzelne zugestiegene Fahrgรคste besonders im Blick behalten.
In Ausnahmen kรถnne dies von ihm jedoch erwartet werden, wenn fรผr den Busfahrer eine schwerwiegende Behinderung eines Fahrgastes sichtbar sei, die diesen dann gefรคhrde, wenn keine besondere Rรผcksicht genommen wรผrde.
Der Busfahrer hรคtte eine solche schwerwiegende Behinderung jedoch nicht erkennen kรถnnen. Die Klรคgerin sei ohne fremde Hilfe eingestiegen und hรคtte keinen der naheliegenden Sitzplรคtze eingenommen.
Durch das Zeigen des Ausweises allein kรถnne ein Busfahrer nicht schlieรen, dass besondere Rรผcksicht nรถtig sei. Im gegebenen Fall hรคtte sie den Fahrer auf Hilfebedรผrftigkeit aufmerksam machen mรผssen.
“Ausweis rechtfertigt keine besondere Rรผcksicht”
Ein Schwerbehindertenausweis, auch ein solcher wie der der Klรคgerin, der zum kostenlosen Fahren mit รถffentlichen Verkehrsmitteln berechtige, verpflichte nicht zur besonderen Rรผcksicht durch Busfahrer.
Zum Beispiel, so das Gericht, bedรผrfe ein gehรถrloser Mensch vermutlich keiner besonderen Hilfe, um im Linienbus einen Sitzplatz einzunehmen.
Selbst ein Merkzeichen G im Ausweis berechtige nicht generell dazu, besondere Rรผcksicht zu fordern. Dieses Merkzeichen erhielten zum Beispiel auch Menschen, die Orientierungsprobleme hรคtten.
Wenn eine Betroffene wie die Klรคgerin keine รคuรeren Anzeichen einer Gehbehinderung zeige, kรถnne erwartet werden, dass sie selbst auf ihre Einschrรคnkung aufmerksam mache und darum bitte, mit dem Anfahren zu warten, bis sie einen Sitzplatz eingenommen hรคtte.
Fazit
Was lรคsst sich aus diesem Urteil lernen? In eine รคhnliche Situation wie die Klรคgerin kรถnnen Menschen mit Behinderungen schnell geraten.
Sie sind auf der sicheren Seite, wenn Sie direkt beim Zeigen ihres Schwerbehindertenausweises darauf aufmerksam machen, dass Sie besonders gefรคhrdet sind und den Busfahrer darum bitten, mit dem Anfahren zu warten, bis Sie fest sitzen und Halt gefunden haben.
So hรคtten Sie im Falle eines Unfalls eine weit bessere Chance, Schmerzens- und Schadensgeld zu erhalten und wรผrden zudem das Risiko verringern dass es รผberhaupt zu einem solchen Unfall kommt.