Bundessozialgericht: Pflegegrad 5 nur bei klar definiertem Härtefall

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Wer wegen schwerer Einschränkungen einen Pflegegrad 5 erreichen will, kann sich nicht darauf verlassen, dass die Pflegekasse im Einzelfall „aus Kulanz“ oder wegen besonderer Härte hochstuft. Das Bundessozialgericht (BSG) hat klargestellt: Die Regel zu „besonderen Bedarfskonstellationen“ ist keine Tür für freie Härtefallentscheidungen, sondern soll nur ganz seltene, in Richtlinien festgelegte Fallgruppen erfassen. (B 3 P 1/22 R)

Worum ging es konkret?

Ein 1962 geborener Versicherter bezog zunächst Pflegegrad 2, später nach Widerspruch Pflegegrad 3. Er leidet an einer angeborenen Verkürzung von Armen und Beinen und kann im herkömmlichen Sinn nicht greifen oder gehen. Er verlangte Pflegegeld nach Pflegegrad 5 – nicht über die normale Punktebewertung (NBA), sondern über die Sonderregel „besondere Bedarfskonstellation“ nach § 15 Abs. 4 SGB XI.

Was haben die Vorinstanzen entschieden?

Sozialgericht und Landessozialgericht wiesen die Klage ab. Begründung: Eine besondere Bedarfskonstellation liegt nach den Begutachtungs-Richtlinien nur vor, wenn Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen gegeben ist (und nach späterer Richtlinienfassung: nicht durch Hilfsmittel kompensierbar). Laut Gutachten konnte der Kläger jedoch mit Hilfsmitteln und erlernten Kompensationsstrategien viele Alltagsaktivitäten (teil-)selbstständig bewältigen.

Kernaussage des BSG: Richtlinien sollen seltene Fallgruppen regeln – keine Einzelfall-Härte

Das BSG hat die Revision zurückgewiesen. Der zentrale Punkt:

  • Die Ermächtigung in § 15 Abs. 4 SGB XI zielt darauf, für sehr seltene Konstellationen eine regelhaft beschriebene Härtefallregelung im System des neuen Begutachtungsinstruments zu schaffen.
  • Nicht erlaubt ist, dass Pflegekassen (oder Gerichte) im Einzelfall sagen: „Das ist aber hart – wir stufen trotzdem auf Pflegegrad 5 hoch“, wenn die Richtlinien-Fallgruppe nicht erfüllt ist.

Mit anderen Worten: Ohne passende, in den Richtlinien definierte Bedarfskonstellation gibt es keinen Pflegegrad 5 „unter 90 Punkten“ über § 15 Abs. 4 SGB XI.

Warum ist das Urteil so wichtig?

Viele Betroffene hoffen bei besonders schweren körperlichen Einschränkungen auf Pflegegrad 5, obwohl die 90-Punkte-Grenze im NBA nicht erreicht wird (weil dafür oft zusätzlich erhebliche kognitive/psychische Einschränkungen nötig sind). Genau dafür existiert § 15 Abs. 4 SGB XI – aber laut BSG eben nur als eng begrenzte Ausnahme, die nicht beliebig erweitert werden darf.

Was bedeutet das praktisch für Betroffene?

  1. Pflegegrad 5 über § 15 Abs. 4 SGB XI klappt nur, wenn man genau in eine Richtlinien-Bedarfskonstellation fällt.
  2. „Vergleichbar“ reicht nach dieser Linie regelmäßig nicht, wenn die Richtlinien bewusst eng sind und der Gesetzgeber eine einheitliche Anwendung wollte.
  3. Hilfsmittel, Assistenztechnik und erlernte Kompensation werden berücksichtigt – und können dazu führen, dass die strenge Sonderkonstellation nicht vorliegt.
  4. Wer Pflegegrad 5 will, muss strategisch prüfen: Normaler Weg über Punkte (NBA) oder Sonderweg – und ob ggf. ein neues/aktuelles Gutachten andere Bewertungen in den Modulen trägt.

FAQ: Fragen & Antworten

1) Was ist eine „besondere Bedarfskonstellation“ nach § 15 Abs. 4 SGB XI?
Das ist eine Ausnahmeregel: Bestimmte, sehr seltene Fälle können Pflegegrad 5 bekommen, auch wenn die Gesamtpunkte unter 90 liegen – aber nur nach pflegefachlich definierten Kriterien in den Begutachtungs-Richtlinien.

2) Kann die Pflegekasse im Einzelfall einen „Härtefall“ anerkennen, obwohl die Richtlinie nicht passt?
Nach dem BSG: Nein. § 15 Abs. 4 SGB XI ermächtigt nicht zu einer freien Härtefallentscheidung im Einzelfall, sondern zu regelhaften (standardisierten) Fallgruppen.

3) Spielt es eine Rolle, ob ich Hilfsmittel nutze?
Ja. Wenn Funktionen durch Hilfsmittel oder Kompensationsmechanismen teilweise ausgeglichen werden können, kann das dazu führen, dass die strenge Sonder-Fallgruppe (z. B. „vollständiger Funktionsverlust“) nicht erfüllt ist.

4) Heißt das, Pflegegrad 5 ist bei rein körperlichen Einschränkungen praktisch ausgeschlossen?
Nicht ausgeschlossen, aber oft schwerer. Pflegegrad 5 über Punkte (90+) ist häufig leichter erreichbar, wenn mehrere Bereiche stark betroffen sind. Bei rein körperlichen Einschränkungen kommt es sehr auf die Modulbewertungen an – und die Sonderregel ist eng.

5) Was kann ich tun, wenn ich den Pflegegrad für zu niedrig halte?
Typisch sind: Widerspruch gegen den Bescheid, Akteneinsicht ins Gutachten, gezielte Einwände zu konkret falsch bewerteten Modulen, ggf. neue ärztliche/pflegerische Stellungnahmen und – wenn nötig – Klage. Wichtig: Nicht nur Diagnosen, sondern Alltagsfolgen (was geht nicht, wie oft, mit welcher Hilfe?) belegen.

Fazit

Das Bundessozialgericht zieht eine klare Grenze: Pflegegrad 5 „per Härtefall“ gibt es nicht nach freiem Ermessen. § 15 Abs. 4 SGB XI ist eine eng begrenzte Ausnahme, die über Richtlinien-Fallgruppen läuft – nicht über Einzelfallgerechtigkeit nach Bauchgefühl. Für Betroffene heißt das: Wer höhergestuft werden will, muss entweder die Punktebewertung im Begutachtungsinstrument konsequent angreifen oder sehr genau darlegen, warum die konkrete Richtlinien-Bedarfskonstellation tatsächlich erfüllt ist.