Bürgergeld: Jobcenter lehnt Erstausstattung ab – Aus diesen Gründen darf es das nicht

Lesedauer 3 Minuten

Wohnungserstausstattung: Jobcenter darf Anspruch nicht mit Hinweis auf „frühere Fahrlässigkeit“ ablehnen

Wer heute eine Wohnungserstausstattung braucht, hat Anspruch auf Unterstützung – auch dann, wenn Möbel vor Jahren abgegeben, verkauft oder entsorgt wurden. Maßgeblich ist die aktuelle Bedarfslage. Ein möglicherweise fahrlässiges Verhalten in der Vergangenheit steht dem Anspruch nicht entgegen.

Nur wenn das Jobcenter vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln annimmt, kommen Rückgriffsmöglichkeiten nach § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II in Betracht.

Kernaussagen auf einen Blick

Gegenwartsprinzip: Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit zählt die gegenwärtige Situation. Vergangenes ist nur relevant, wenn es klare Rückschlüsse auf die heutige Lage zulässt.
Bedarfsdeckung geht vor: Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ist der konkrete, aktuelle Bedarf an notwendiger Erstausstattung zu decken.

Keine pauschale Ablehnung: Eine Ablehnung allein mit dem Argument „frühere Fahrlässigkeit“ oder auf bloße Mutmaßungen gestützt ist unzulässig.
Verfassungsrechtlicher Rahmen: Leistungen der Grundsicherung sichern ein menschenwürdiges Existenzminimum. Einschränkungen bedürfen einer klaren gesetzlichen Grundlage (BVerfG, 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 3/09, 4/09).

Wichtiges Urteil: SG Reutlingen bestätigt Bedarfsprinzip

Das Sozialgericht Reutlingen (S 7 AS 449/16, 14.11.2016) hat entschieden:

Erstausstattung ist bedarfsbezogen: Auch Ersatzbeschaffung nach Verlust früherer Möbel kann Erstausstattung i.S.d. § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II sein.
Neun Jahre vorher entsorgt? Unerheblich: Ob der Kläger sein Mobiliar neun Jahre vor der aktuellen Bedarfslage aufgegeben/verkauft/entsorgt hat, ist grundsätzlich unerheblich. Fahrlässiges Verhalten in der Vergangenheit steht dem Anspruch nicht entgegen.

Option § 34 SGB II bleibt unberührt: Hält das Jobcenter Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit für erwiesen, kann es separate Ersatzansprüche prüfen – der akute Bedarf ist trotzdem zu decken.
Praxisdetail: Nicht jeder fehlende Gegenstand muss einzeln benannt werden; bei Familien sind z. B. vier Stühle als Grundausstattung angemessen.

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Was das für Betroffene bedeutet

Fahrlässiger Verlust einer früheren Wohnungsausstattung (z. B. vor Jahren Möbel verschenkt oder entsorgt) verhindert den Anspruch auf Erstausstattung nicht. Entscheidend ist, ob heute notwendige Gegenstände fehlen (Bett/Matratze, Tisch, Stühle, Schrank, Koch-/Küchenausstattung, Beleuchtung, Gardinen/Rollos).

Meint das Jobcenter, jemand habe vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt, kann es separate Schritte nach § 34 SGB II prüfen. Das ändert nichts daran, dass der akute Bedarf jetzt zu decken ist (SG Reutlingen).

Ermessensspielraum des Jobcenters

Das Jobcenter darf Art und Umfang der Leistungen organisieren (Geld- oder Sachleistungen/Gutscheine). Es kann prüfen, welche Gegenstände zwingend erforderlich sind und günstige Beschaffungswege wählen. Der Grundbedarf muss aber ausreichend gedeckt werden.

Sonderfälle: Notlagen und höhere Gewalt

Geht die Wohnungsausstattung durch höhere Gewalt verloren (z. B. Hochwasser, Brand), kommt Sonderbedarf in Betracht. Diese Kosten sind grundsätzlich als Zuschuss zu übernehmen.

Einschätzung von Bürgergeld-Experte Detlef Brock

Kein Ausschluss nur wegen Verlusts: Ein vorwerfbares Verhalten, das zum Verlust der alten Ausstattung führte, schließt den neuen Anspruch nicht automatisch aus.
Auftrag des Jobcenters: Den aktuellen Bedarf decken, soweit er nicht anderweitig gedeckt werden kann.
Praktische Umsetzung: Möglich sind Sachleistungen oder Geldleistungen – entscheidend ist, dass der notwendige Mindeststandard erreicht wird.

Wichtige Rechtsprechung – praxisrelevant

SG Reutlingen, 14.11.2016 – S 7 AS 449/16: Erstausstattung ist bedarfsbezogen; frühere Fahrlässigkeit steht dem Anspruch nicht entgegen; ggf. § 34 SGB II für Rückgriff. ([anwaltskanzlei-adam.de][1])
BSG, B 4 AS 202/10 R: Frühere fahrlässige Verluste hindern die Ersatzbeschaffung als Erstausstattung nicht.
LSG NRW, L 19 AS 1120/13 B (rechtskräftig) / BSG, B 14 AS 33/12 R: Nachforderungen für Betriebs-/Heizkosten sind aktueller Bedarf im Fälligkeitszeitpunkt; zweckwidrig verwendete Vorauszahlungen werden nicht verrechnet; ggf. § 34a SGB II für Erstattung.

So setzen Sie Ihren Anspruch durch

  1. Bedarfsliste erstellen: Welche Gegenstände fehlen konkret?
  2. Schriftlicher Antrag: „Antrag auf Wohnungserstausstattung nach § 24 Abs. 3 SGB II“ mit kurzer Begründung (aktuelle Bedarfslage, fehlende Gegenstände, keine anderweitige Deckung).
  3. Nachweise beilegen: Mietvertrag, Übergabeprotokoll, Fotos der leeren Wohnung, ggf. Schadensnachweise (Brand/Hochwasser).
  4. Leistungsform klären: Geld- oder Sachleistung; bei Gutscheinen Verfügbarkeit/Lieferzeiten prüfen.
  5. Fristen sichern: Bescheid verlangen. Bei Ablehnung binnen 1 Monat Widerspruch – unter Hinweis auf SG Reutlingen S 7 AS 449/16 und das Bedarfsdeckungsprinzip.

Fazit

Ein pauschaler Ausschluss der Wohnungserstausstattung mit dem Hinweis auf frühere Fahrlässigkeit ist rechtswidrig. Die Deckung des aktuellen Bedarfs steht im Mittelpunkt. Nur ausdrücklich geregelte Leistungsausschlüsse kommen in Betracht.

Die Grundsicherung sichert das menschenwürdige Existenzminimum – dazu gehört bei Bedarf auch eine angemessene Erstausstattung der Wohnung.