Wer dachte, ein Steuerbescheid sei der Generalschlüssel für neugierige Jobcenter Augen, wird nun eines Besseren belehrt: Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 15. 05. 2025 (L 34 AS 895/22) entschieden, dass ein unterhaltspflichtiger Vater weitreichendere Auskünfte zu Einkommen und Vermögen liefern muss, obwohl die Behörde bereits Steuerdaten vom Finanzamt erhalten hatte.
Die Entscheidung verschärft die Transparenzpflicht von Unterhaltspflichtigen und räumt gleich mehrere Irrtümer aus.
Warum das Urteil jetzt Signalwirkung hat
Wirtschaftlichkeit sticht Datenschutz – zumindest so lange das Auskunftsverlangen nicht zum reinen „Fishing Expedition“ verkommt. Das Urteil dürfte Beratungsstellen und Aktivisten Munition liefern, wenn es um faire Lastenverteilung zwischen Staat und Unterhaltspflichtigen geht.
Der Fall in Kürze – Gärtner versus Alleinerziehende
Der Kläger, ein selbstständiger Garten- und Landschaftsbauer, zahlt für seinen 2018 geborenen Sohn monatlich 300 €. Die Kindesmutter, ebenfalls selbstständig, geriet pandemiebedingt in die Hilfebedürftigkeit und bezieht seit April 2021 SGB-II-Leistungen. Betreuungsunterhalt für sie selbst leistet der Vater nicht – für das Jobcenter ein rotes Tuch. Es verlangte daher am 26. 04. 2021 detaillierte Angaben: Einkommen der letzten drei Jahre, Vermögenswerte, laufende Belastungen.
Der Vater wehrte sich – erst per Widerspruch, dann vor dem Sozialgericht Potsdam und schließlich in der Berufung beim LSG. Sein Hauptargument: Die Mutter arbeite bereits wieder, der Unterhalt sei daher „offensichtlich“ ausgeschlossen. Außerdem habe das Finanzamt doch ohnehin seine Einkünfte gemeldet. Das LSG sah das anders.
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Kernaussagen des Urteils
1. Keine Erledigung durch Steuerdaten
Ein Verwaltungsakt erledigt sich nicht „auf andere Weise“ (§ 39 Abs. 2 SGB X), nur weil das Finanzamt Zahlen liefert. Steuerrechtliches Einkommen ist nicht gleich unterhaltsrechtliches Einkommen – Freibeträge, Abschreibungen und Einmaleffekte verzerren das Bild. Vermögenswerte fehlen völlig.
2. Betreuungsunterhalt trotz Erwerbstätigkeit
Die ersten drei Lebensjahre des Kindes sind Unterhaltsbasiszeit (§ 1615 l Abs. 2 S. 3 BGB). Ob die Mutter jobbt, spielt für den Anspruch nur eine Rolle bei der Anrechnung, nicht bei dessen Bestehen. Der Vater konnte also nicht mit dem Finger auf die Kita-Betreuung zeigen und sagen: „Problem gelöst.“
3. Personenidentität und Negativevidenz
Weil die Kindesmutter (Leistungsempfängerin) selbst Anspruch auf Betreuungsunterhalt hat, greift § 60 Abs. 2 SGB II: Der Pflichtige muss dem Jobcenter Auskunft geben. Nur wenn der Unterhaltsanspruch offensichtlich ausgeschlossen wäre – Stichwort „Negativevidenz“ – würde die Auskunft entfallen. Davon konnte keine Rede sein.
4. Ermessen sauber ausgeübt
Das Jobcenter hatte einen Fragebogen nach § 1605 BGB analog verschickt und den Zweck – Schonung öffentlicher Mittel – transparent gemacht. Für das LSG war klar: Kein Ermessensfehlgebrauch, keine Datenkrake.
Rechtliche Einordnung
Das Urteil verknüpft Sozial- und Zivilrecht auf bemerkenswerte Weise. § 60 Abs. 2 SGB II ist das sozialrechtliche Scharnier, § 1615 l BGB liefert den zivilrechtlichen Unterbau. Durch den automatischen Anspruchsübergang nach § 33 SGB II wird das Jobcenter zur „Prozessstandschafterin“ der Kindesmutter – es darf Unterhalt geltend machen, muss aber zuvor wissen, was beim Pflichtigen auf dem Konto liegt.
Interessant ist die Abgrenzung zur Steuerverwaltung: Während das Finanzamt vorrangig fiskalische Interessen verfolgt, geht es beim Unterhalt um Existenzsicherung. Dass hierfür andere Berechnungsmaßstäbe gelten, unterstreicht das Gericht mit Nachdruck.
Kritik und offene Fragen
Datenschutzrechtler dürften die breite Datenabfrage kritisch sehen. Immerhin verlangt der Fragebogen nicht nur Umsätze und Gewinne, sondern auch Versicherungen, Mietkosten und Schulden – ein Blick bis ins private Portemonnaie. Gleichzeitig weist das LSG auf den Subsidiaritätsgrundsatz hin: Öffentliche Kassen sind erst dann am Zug, wenn private Pflichtige zahlen (oder nachweislich nicht zahlen können).
Auch das Geschlechter-Narrativ ist brisant: Häufig sind es Väter, die zur Kasse gebeten werden, während Mütter Grundsicherung beziehen. Das Urteil verhindert zwar Auskunfts-Blockaden, löst aber nicht das Grundproblem ungleicher Care-Arbeit und fehlender Einkommenssicherheit für Alleinerziehende.
Praxistipps für Betroffene und Beratende
- Auskunftsverlangen prüfen: Kommt der Brief vom Jobcenter, zuerst Frist notieren und vollständigen Fragebogen samt Anlagen anfordern – manchmal fehlt das Formular.
- Negativevidenz belegen: Wer wirklich sicher ist, dass kein Unterhaltsanspruch besteht (z. B. wegen Schwerbehinderung der Mutter oder verjährter Ansprüche), sollte dies möglichst früh mit Belegen darlegen.
- Teilantwort statt Totalverweigerung: Fehlende Unterlagen können nachgereicht werden. Eine pauschale Verweigerung führt fast immer zu Klagen und Kosten.
- Überobligatorische Einkünfte sauber aufschlüsseln: Erzielt die betreuende Person eigenes Einkommen, lohnt sich ein Blick in die Unterhaltsrechtsprechung – nicht alles wird angerechnet.
- Beratung einschalten: Fachanwälte für Familien oder Sozialrecht können helfen, den Fragebogen strategisch auszufüllen und unnötige Datenangaben zu vermeiden.