Das Hessische Landessozialgericht hat in einem Urteil (AZ: L 6 AS 310/23) entschieden, dass die Einmalzahlung des Einwohner-Energie-Geldes (EEG) der Stadt Kassel nicht zu einer Minderung der Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) führen darf.
Dieses Urteil bezieht sich auf den Umgang mit einer Zahlung, die zur Entlastung der steigenden Energiepreise im Winter 2022/2023 gewährt wurde. Der Streitfall untersucht die Anrechnung der einmaligen Zahlung in der Berechnung des Bedarfs der Leistungsberechtigten und schafft Klarheit über die Behandlung solcher Zuwendungen im Rahmen der Grundsicherung.
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund: Energiekostenunterstützung durch die Stadt Kassel
Um die finanziellen Belastungen der Einwohner Kassels durch die steigenden Energiekosten im Winterhalbjahr 2022/2023 abzumildern, beschloss die Stadtverordnetenversammlung Kassel das Programm “Kopf hoch, Kassel! – Einwohner-Energie-Geld (EEG)”.
Ziel war es, alle Einwohner mit Hauptwohnsitz im Stadtgebiet finanziell zu entlasten. Für dieses Programm wurden 15,4 Millionen Euro bereitgestellt.
Die Förderung sah eine einmalige Zahlung von 75 Euro pro berechtigter Person vor. Es bestand kein Rechtsanspruch auf diese Zahlung, da der Magistrat der Stadt Kassel nach pflichtgemäßem Ermessen im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel über die Gewährung entschied.
Die Zahlung sollte ausdrücklich zur Abmilderung der gestiegenen Energieversorgungskosten dienen und wurde im Oktober 2022 ausgezahlt.
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Der Streitfall: Anrechnung des EEG auf SGB II-Leistungen
Der Fall betrifft eine sechsköpfige Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus der 1997 geborenen Antragstellerin und ihren vier minderjährigen Kindern sowie ihrem Lebensgefährten. Alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erhielten laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die Stadt Kassel zahlte im Oktober 2022 fünfmal 75 Euro an die Antragstellerin und ihre Kinder als EEG, wobei der Lebensgefährte der Antragstellerin keinen Antrag gestellt hatte und somit keine Zahlung erhielt. Der Beklagte, die zuständige Behörde, sah das EEG als anrechenbares Einkommen an und verlangte die Rückerstattung von Teilen der Grundsicherungsleistungen für den Monat November 2022.
Die Argumentation des Beklagten basierte darauf, dass die 375 Euro Gesamtbetrag des EEG (nach Abzug von Absetzungsbeträgen 345 Euro) zu einer Reduktion der Hilfebedürftigkeit führten. Die Antragsteller erhoben dagegen Einspruch, da sie das EEG als zweckgebundene Zuwendung ansahen, die nicht zur Deckung des allgemeinen Lebensunterhalts verwendet werden sollte.
Ihrer Auffassung nach sei die Anrechnung des EEG eine grobe Unbilligkeit und widerspreche dem eigentlichen Zweck der Zahlung, nämlich der Abmilderung der Energiekostenbelastung.
Gerichtliche Entscheidung: Hessisches Landessozialgericht hebt Bescheid auf
Das Hessische Landessozialgericht gab den Antragstellern recht. Es entschied, dass das EEG als eine freiwillige und zweckgebundene Zahlung nicht als Einkommen im Sinne des SGB II zu werten sei. Damit darf die Einmalzahlung nicht zu einer Reduktion der Grundsicherungsleistungen führen.
Das Gericht stellte fest, dass der eigentliche Zweck der Zahlung, die Abmilderung der gestiegenen Energiekosten, durch die Anrechnung verfehlt würde. Zudem hätte eine solche Anrechnung die sozialen Sicherungszwecke unterlaufen, die durch das EEG gewährleistet werden sollten.
Das Gericht argumentierte, dass das EEG nicht denselben Zweck verfolge wie die Leistungen nach dem SGB II, welche der Sicherung des allgemeinen Lebensunterhalts dienen. Das EEG sollte hingegen explizit die gestiegenen Energiekosten ausgleichen und damit eine zusätzliche Belastung abfedern, ohne den Leistungsanspruch auf existenzsichernde Mittel zu beeinflussen.
Rechtliche Bewertung: Anrechenbarkeit von Zuwendungen im SGB II
Nach § 11 SGB II sind grundsätzlich alle Einnahmen als Einkommen zu berücksichtigen, soweit sie nicht explizit ausgenommen sind. Das Hessische Landessozialgericht befasste sich in seiner Prüfung eingehend mit den Ausnahmetatbeständen nach § 11a SGB II, die festlegen, wann Zuwendungen nicht als Einkommen gewertet werden dürfen.
Dabei sind Zuwendungen, die auf Grundlage einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift zu einem bestimmten Zweck erbracht werden und diesem Zweck nicht widersprechen, als privilegiert zu behandeln. Das Gericht erkannte im EEG eine solche zweckgebundene Leistung.
Ein wesentlicher Aspekt der gerichtlichen Entscheidung war die Beurteilung, ob das EEG den Leistungsberechtigten zugutekommen sollte, ohne die Leistungen der Grundsicherung zu beeinflussen. Das EEG wurde eindeutig zur finanziellen Entlastung bei gestiegenen Energiekosten ausgezahlt.
Die Entscheidung des Gerichts betonte, dass eine solche einmalige Zahlung, die zur spezifischen Deckung von Mehrbelastungen dient, nicht mit dem allgemeinen Lebensunterhalt gleichzusetzen sei und daher nicht in die Einkommensberechnung für das SGB II einfließen dürfe.
Zweckgebundenheit der Zuwendung und rechtliche Verpflichtung
Ein weiteres Argument für die Nichtanrechnung war, dass das EEG nicht als eine auf rechtlicher oder sittlicher Pflicht beruhende Zuwendung zu betrachten sei.
Die Stadt Kassel hatte in ihren Förderrichtlinien festgelegt, dass kein Rechtsanspruch auf die Zahlung bestehe und diese unter Vorbehalt der verfügbaren Haushaltsmittel geleistet werden.
Damit handelte es sich beim EEG nicht um eine rechtlich verpflichtende, sondern um eine freiwillige Leistung, die der Kommune zur freien Entscheidung überlassen blieb.
Vergleich zur Sozialhilfe (SGB XII)
In der Behandlung des EEG gabe es einen Unterschied im Vergleich zur Sozialhilfe nach dem SGB XII. Die Stadt Kassel rechnete das EEG bei Empfängern von Sozialhilfe nicht als Einkommen an, was zu einer Ungleichbehandlung zwischen SGB II- und SGB XII-Empfängern geführt hatte.
Das Gericht entschied jedoch, dass diese Ungleichbehandlung keine rechtliche Grundlage für die Anrechnung des EEG im Kontext des SGB II darstellen kann.
Das Gericht führte aus, dass Zuwendungen im Rahmen des SGB XII, wie etwa das EEG, nicht als Einkommen angerechnet werden, soweit diese eine besondere Härte darstellen würden. Dies übertrug das Gericht jedoch nicht auf das SGB II, da die rechtliche Grundlage sowie die Zielsetzungen der beiden Sozialleistungssysteme unterschiedlich sind.
Auch wenn eine Gleichbehandlung wünschenswert sein mag, erfordert sie eine gesetzliche Regelung, die für beide Bereiche klar definiert ist.
Praktische Auswirkungen des Urteils
Die Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts hat weitreichende Konsequenzen für die Behandlung von kommunalen Einmalzahlungen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Sie schafft Klarheit darüber, dass zweckgebundene kommunale Leistungen, die ohne rechtliche Verpflichtung gewährt werden, nicht automatisch als Einkommen im Sinne des SGB II angerechnet werden dürfen.
Besonders in Zeiten hoher Energiepreise und steigender Lebenshaltungskosten stellt dieses Urteil sicher, dass solche Entlastungen auch tatsächlich bei den Betroffenen ankommen, ohne dass deren Grundsicherungsleistungen gekürzt werden.
Dies bedeutet, dass andere Kommunen, die ähnliche Programme auflegen, eine Orientierung darin finden, wie solche Zahlungen rechtlich zu behandeln sind. Leistungen, die zur spezifischen Entlastung der Energiekosten dienen, können auch in anderen Fällen als nicht anrechenbar angesehen werden, sofern sie eine klare Zweckbindung aufweisen und auf freiwilliger Grundlage beruhen.
Revision und zukünftige Rechtsentwicklung
Das Gericht hat die Revision zugelassen, da die Entscheidung eine grundlegende Bedeutung für die Praxis hat. Die Frage, wann eine Leistung aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften als nicht anrechenbares Einkommen gilt, hat erhebliche Auswirkungen für Leistungsberechtigte im gesamten Bundesgebiet.
Besonders die Frage, wie freiwillige kommunale Zuwendungen im Rahmen der Anrechnungsbestimmungen des SGB II zu behandeln sind, dürfte von grundsätzlicher Bedeutung für zukünftige Fälle sein.
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik und Sportmedizin studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention und im Reha-Sport für Menschen mit Schwerbehinderungen tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht und Gesundheitsprävention. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und Behindertenberatung.