Bürgergeld: Jobcenter verlangte Bescheinigung ob man im Bett liegt

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Ein Termin beim Jobcenter ist für Bürgergeld‑Empfangende Pflicht. Wer ihn versäumt, muss mit Leistungskürzungen rechnen, darf sich aber auf einen „wichtigen Grund“ berufen. In der Praxis genügt dafür in aller Regel die Vorlage der bekannten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arzt.

Einige Jobcenter verlangen jedoch ein zweites Dokument: die sogenannte Wegeunfähigkeits‑ oder Bettlägerigkeitsbescheinigung, mit der Ärztinnen und Ärzte ausdrücklich bestätigen sollen, dass der Weg zur Behörde unzumutbar war.

Die zusätzliche Hürde ist von Anfang an umstritten, weil eine solche Bescheinigung im kassen­ärztlichen System gar nicht vorgesehen ist und Patientinnen sich die Bestätigung oft privat bezahlen müssten.

Streit mit dem Jobcenter um Attest eskalierte

Eine Bürgergeld‑Bezieherin meldete sich krank und reichte fristgerecht ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein. Dennoch strich ihr das Jobcenter zehn Prozent des Regelsatzes.

Die Behörde argumentierte, sie habe den Termin nur dann entschuldigt, wenn zusätzlich die Wegeunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werde. Der Bescheid stützte sich auf die Standard‑Sanktionsvorschrift des § 32 SGB II, die ein Nichterscheinen zu Meldeterminen ahndet.

Welche Position vertrat das Sozialgericht Hildesheim?

Die 38. Kammer stellte klar, dass eine Bettlägerigkeitsbescheinigung in der hier verwendeten Form nicht verlangt werden darf.

Die Rechtsfolgenbelehrung in der Einladung sei irreführend, weil sie suggeriere, nur mit diesem speziellen Attest lasse sich Krankheit belegen. Damit werde ein unzulässiger Eindruck erweckt, der Leistungsberechtigte könne sein Recht auf Entschuldigung nur durch ein einziges, schwer erhältliches Beweismittel wahren.

Darum durfte das Jobcenter nicht einfach auf § 32 SGB II zurückgreifen

Die Richterinnen ordneten den Termin inhaltlich als Start einer Maßnahme ein; deshalb wäre § 31 SGB II maßgeblich gewesen. Diese Vorschrift erlaubt Sanktionen nur bei einer konkreten Pflichtverletzung und verlangt eine besonders deutliche Belehrung über die Folgen. Eine solche Belehrung fehlte – bereits deshalb war die Kürzung rechtswidrig.

Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

Das oberste Sozialgericht hatte 2010 entschieden, dass eine bloße Arbeitsunfähigkeits­bescheinigung nicht automatisch die Wegeunfähigkeit belegt. Im Einzelfall darf deshalb ein spezielles Attest gefordert werden, wenn begründete Zweifel am Gesundheitszustand bestehen oder mehrfache Versäumnisse vorliegen.

Das Urteil aus Kassel wird von Jobcentern häufig als Freibrief verstanden. Das Gericht in Hildesheim erinnert nun daran, dass die Zusatzanforderung nicht pauschal, sondern nur ausnahmsweise erhoben werden darf – und dass die Betroffenen zuvor klar darauf hingewiesen werden müssen.

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Was bedeutet die Hildesheimer Entscheidung bundesweit?

Urteile eines Sozialgerichts binden zunächst nur die Beteiligten, sie entfalten aber faktische Signalwirkung. Die Kammer betont nämlich zwei Grundsätze: Erstens genügt eine normale Krankschreibung in aller Regel.

Zweitens darf eine Behörde Leistungsberechtigte nicht durch missverständliche Belehrungen davon abhalten, sich auf Krankheit zu berufen. Damit zieht das Gericht eine Linie gegen standardisierte Zusatz‑Atteste, die vielerorts in Einladungsschreiben auftauchen.

Wie können Betroffene ihre Rechte durchsetzen?

Erkrankte Bürgergeld‑Berechtigte sollten weiterhin umgehend eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen.

Verlangt das Jobcenter darüber hinaus eine Wegeunfähigkeits­bescheinigung, können sie schriftlich auf das Urteil verweisen und um Kostenübernahme für ein weiteres Attest bitten.

Kommt es dennoch zu einer Leistungskürzung, ist binnen eines Monats Widerspruch möglich; wird dieser abgelehnt, steht der Klageweg zum Sozialgericht offen.

Welche praktischen Folgen hat das Urteil für die Jobcenter?

Die Arbeitsverwaltung muss Einladungen sorgfältiger formulieren. Pauschale Passagen, die die Bettlägerigkeits­bescheinigung als zwingend darstellen, dürften künftig kaum Bestand haben.

Zugleich bleibt das Recht bestehen, in begründeten Einzelfällen weitergehende Nachweise einzufordern – allerdings erst nach Dokumentation konkreter Zweifel und mit klarer Kostenregelung.

Für die Jobcenter sollte in Zukunft feststehen: Wer irreführende Formulare verwendet oder auf falscher Rechtsgrundlage sanktioniert, verliert vor Gericht und trägt die Prozesskosten.

Bleiben offene Fragen?

Ob höhere Instanzen die Linie des Sozialgerichts bestätigen, ist noch nicht endgültig geklärt. Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts zu pauschalen Wegeunfähigkeitsforderungen steht aus.

Bis dahin sorgt das Hildesheimer Urteil für mehr Rechtssicherheit: Krankheit ist ein schutzwürdiger Grund, und eine Krankschreibung darf nicht in ein Beweisparadox verwandelt werden. (Az: S 38 AS 1417/17)