Verfassungswidrige Regelsätze: Was bedeutet das jetzt für Bürgergeld-Bezieher?

Lesedauer 3 Minuten

Unser Kollege Detlef Brock hat am Wochenende berichtet, dass das Sozialgericht Karlsruhe entschieden hat, dass die Regelleistungen verfassungswidrig zu niedrig sind. Viele haben uns geschrieben und gefragt, was das nun bedeutet. Diese Fragen wollen wir beantworten.

Warum könnten die Regelsätze verfassungswidrig sein?

Während der Pandemie-Zeit waren vor allem Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld, aber auch von Grundsicherung im Alter und Sozialhilfe besonders betroffen.

Die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen und der Kauf von Masken und Hygieneartikeln erhöhte die Ausgaben erheblich.

In diesem Zusammenhang steht nun ein erneutes Vorlageverfahren des Sozialgerichts Karlsruhe (SG Karlsruhe), das sich mit der Frage beschäftigt, ob die damaligen Einmalzahlungen und Regelleistungen während der Pandemie ausreichend waren, um das Existenzminimum der Bürgergeld-Beziehern zu gewährleisten.

Worum geht es im Vorlageverfahren des SG Karlsruhe?

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein erstes Vorlageverfahren des SG Karlsruhe aus formellen Gründen ablehnte, folgte im August 2024 ein erneuter Anlauf des Gerichts.

Dieses Mal legte das SG Karlsruhe eine detailliertere und gründlichere Begründung vor. Im Kern geht es um die Frage, ob die durch den § 73 des Sozialgesetzbuches II (SGB II) geregelten Sonderzuschläge verfassungswidrig sind.

Diese Sonderzuschläge sollten das Existenzminimum für Bürgergeldempfänger während der Pandemie sichern, doch das SG Karlsruhe zweifelt daran, ob dies in ausreichendem Maße geschehen ist.

Das Gericht begründet seine Zweifel mit folgenden Punkten:

  1. Die Einmalzahlungen von 150 bzw. 200 Euro waren zu niedrig.
  2. Diese Zahlungen erfolgten zu spät, um die Bürgergeldempfänger in der Notsituation rechtzeitig zu unterstützen.
  3. Die Berechnung dieser Beträge basierte nicht auf klaren Daten, sondern wurde laut SG Karlsruhe „ins Blaue hinein geschätzt“.
  4. Die Auszahlung der Zuschläge erfolgte verspätet und war somit für die Betroffenen nicht in der Gegenwart verfügbar, was einen Widerspruch zu den Anforderungen des Grundgesetzes darstellt.

Das Verfahren wurde nunmehr ausgesetzt, bis das Bundesverfassungsgericht über das Normenkontrollverfahren 1 BvL 2/23 entschieden hat, in dem die Vereinbarkeit der §§ 70 und 73 SGB II mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und dem Allgemeinen Gleichheitssatz geprüft wird.

Warum sind die Einmalzahlungen von 150 bzw. 200 Euro strittig?

Die Einmalzahlungen in der Höhe von 150 bzw. 200 Euro, die während der Coronapandemie an Bürgergeldempfänger ausgezahlt wurden, waren als  Soforthilfe gedacht. Doch schon kurz nach ihrer Einführung wurde Kritik laut.

Viele Betroffene und soziale Verbände stellten infrage, ob diese Beträge überhaupt ausreichen, um die zusätzlichen finanziellen Belastungen zu decken, die während der Pandemie entstanden sind.

Das SG Karlsruhe argumentiert nun, dass diese Beträge bei weitem nicht ausreichten, um den finanziellen Mehraufwand zu decken, der durch steigende Lebenshaltungskosten, Hygieneartikel und zusätzliche Ausgaben im Alltag entstanden ist. Auch der Umstand, dass die Beträge erst mit erheblicher Verzögerung ausgezahlt wurden, hat die Situation der Betroffenen verschärft.

Weshalb erfolgten die Auszahlungen zu spät?

Ein weiterer zentraler Kritikpunkt des SG Karlsruhe ist der Zeitpunkt der Auszahlungen. Die Sonderzuschläge sollten Bürgergeldempfängern dabei helfen, die pandemiebedingten Mehrkosten zu decken.

Doch die Zahlungen kamen erst im Mai 2021 bzw. im Juli 2022 – also deutlich nach den Hochphasen der Pandemie. Dadurch konnten die Bürgergeldempfänger die finanziellen Herausforderungen, die durch Lockdowns und andere Einschränkungen entstanden sind, nicht zeitnah bewältigen.

Das SG Karlsruhe führt an, dass die verspätete Auszahlung verfassungsrechtlich problematisch ist, da das menschenwürdige Existenzminimum nicht nachträglich, sondern in der Gegenwart gewährleistet sein muss.

Eine verspätete Zahlung widerspricht diesem Grundsatz und lässt die Betroffenen im entscheidenden Moment ohne ausreichende Unterstützung zurück.

Lesen Sie auch:

Auf welcher Grundlage wurden die Beträge berechnet?

Ein weiterer Kritikpunkt des SG Karlsruhe ist die mangelnde Transparenz bei der Berechnung der Sonderzuschläge.

Die Höhe der Einmalzahlungen wurde laut Gericht ohne klare Berechnungsgrundlage festgelegt. Dieser Mangel an fundierten Daten widerspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das bereits in früheren Urteilen klargestellt hat, dass Regelleistungen zur Sicherung des Existenzminimums auf einer nachvollziehbaren und transparenten Grundlage basieren müssen.

Eine bloße Schätzung genügt diesen Anforderungen nicht und stellt somit einen weiteren möglichen Verfassungsverstoß dar.

Was sind die verfassungsrechtlichen Fragen?

Das erneute Vorlageverfahren des SG Karlsruhe zielt darauf ab, die Verfassungsmäßigkeit der Sonderzuschläge und Regelleistungen während der Coronapandemie zu überprüfen.

Dabei steht das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das im deutschen Grundgesetz verankert ist, auf dem Prüfstand. Dieses Grundrecht stellt sicher, dass jeder Mensch in Deutschland über ausreichende Mittel verfügen muss, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

Das SG Karlsruhe bezweifelt, dass dies durch die Sonderzuschläge gewährleistet wurde.

Es sieht die Gefahr, dass die Regelleistungen und Einmalzahlungen während nicht ausgereicht haben, um den Bedarf der Bürgergeldempfänger zu decken. Zudem steht der Allgemeine Gleichheitssatz auf dem Prüfstand, der sicherstellt, dass alle Bürger gleich behandelt werden.

Welche Auswirkungen hat das Verfahren für Bürgergeldempfänger?

Das Verfahren könnte weitreichende Auswirkungen auf die Berechnung der Sozialleistungen in Deutschland haben.

Sollte das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass die Sonderzuschläge verfassungswidrig sind, könnte dies dazu führen, dass die Regelleistungen nachträglich erhöht werden müssen. Betroffene Bürgergeldempfänger könnten dann Anspruch auf höhere Nachzahlungen haben.

Allerdings ist der Weg dorthin lang und mühsam. Wie das SG Karlsruhe bereits in seiner Anmerkung betonte, müssen die Betroffenen in den unteren Instanzen akribisch nachweisen, dass die Regelleistungen nicht ausreichten. Ohne einen detaillierten Nachweis der Unterdeckung wird es schwierig sein, erfolgreich zu klagen.