Kaum eine Sozialleistung wird derzeit so emotional diskutiert wie das Bürgergeld. Medienberichte, Talkshows und politische Debatten suggerieren häufig: Wer arbeitet, ist der Dumme – denn mit Bürgergeld lässt sich angeblich ein bequemes Leben ohne Verpflichtungen führen.
Eine aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) stellt dieser Debatte nun harte Fakten gegenüber. Das Ergebnis: Arbeit lohnt sich – und zwar deutlich. Doch warum hält sich das gegenteilige Bild so hartnäckig?
Haushaltstypen im Faktencheck: Wer arbeitet, hat mehr – aber spürt es nicht immer
Die WSI-Studie untersucht drei typische Haushaltstypen und vergleicht das monatlich verfügbare Einkommen bei Bürgergeldbezug mit dem bei einer Vollzeitstelle zum Mindestlohn. Die Zahlen zeigen durchgängig einen positiven Lohnabstand – doch das allein reicht nicht, um das gesellschaftliche Klima zu verändern.
1. Alleinstehender Mann
Mit Arbeit: 1.572 €
Mit Bürgergeld: 1.015 €
Lohnabstand: 557 €
Trotz Mehrarbeit bleibt am Monatsende kein Vermögen übrig – die Differenz zum Bürgergeld ist real, aber gefühlt oft gering. Insbesondere bei steigenden Lebenshaltungskosten fällt es schwer, diesen Abstand als echten Gewinn zu empfinden.
2. Alleinerziehende Mutter mit einem Kind
Mit Arbeit: 2.532 €
Mit Bürgergeld: 1.783 €
Lohnabstand: 749 €
Ein beachtlicher Unterschied, der allerdings durch komplexe Leistungskombinationen wie Kindergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss zustande kommt. Ohne detaillierte Beratung wissen viele Betroffene nicht einmal, dass ihnen diese Leistungen zustehen – oder wie sie sie beantragen können.
3. Ehepaar mit zwei Kindern, ein Elternteil erwerbstätig
Mit Arbeit: 3.414 €
Mit Bürgergeld: 2.754 €
Lohnabstand: 660 €
Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.
Bescheid prüfenHier zeigt sich besonders deutlich: Der Verdienst reicht nur, wenn weitere Transferleistungen greifen. Arbeit ohne ergänzende Sozialleistungen wäre in dieser Konstellation kaum existenzsichernd.
Lohnabstand – ein Rechenwert mit begrenzter Lebensrealität
Formal gesehen bleibt der Lohnabstand in allen Konstellationen erhalten – das ist sozialstaatlich richtig und wichtig. Doch die Realität ist komplexer:
- Der Lohnabstand sagt nichts über Lebensqualität oder gesellschaftliche Teilhabe aus. 500 € mehr im Monat sind schnell aufgebraucht, wenn unerwartete Ausgaben kommen.
- Der Abstand resultiert häufig nicht aus dem Lohn selbst, sondern aus Zuschüssen wie Kindergeld oder Wohngeld – die auch ohne Erwerbsarbeit teilweise gewährt werden.
- Der Arbeitsmarkt verlangt Mobilität, Flexibilität und oft auch Eigeninvestitionen (Fahrtkosten, Kleidung, Verpflegung), die im Bürgergeldbezug nicht anfallen.
Das führt dazu, dass viele Menschen subjektiv nicht das Gefühl haben, besser gestellt zu sein – obwohl sie es rechnerisch sind. Der oft zitierte Satz „Am Ende bleibt doch kaum mehr“ trifft in der Lebenswirklichkeit vieler Erwerbstätiger zu.
Regionale Differenzen und Mietpreisfalle: Wo der Abstand schmilzt
Die Studie zeigt, dass der Lohnabstand in Städten mit hohen Mieten geringer ausfällt, weil die Leistungen im Bürgergeld entsprechend steigen. In München bleibt einem Alleinstehenden mit Arbeit nur 379 Euro mehr als im Bürgergeldbezug. In strukturschwachen Regionen kann der Unterschied dagegen über 600 Euro betragen.
Das hat Konsequenzen: Menschen in teuren Städten fühlen sich zu Unrecht mit Erwerbslosen gleichgestellt, obwohl sie arbeiten. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, Arbeit lohne sich nur auf dem Papier – ein gefährlicher Nährboden für soziale Spannungen und Ressentiments.
Politische Instrumentalisierung: Warum das falsche Narrativ so gut funktioniert
Die Behauptung, Arbeit lohne sich nicht mehr, ist nicht neu – aber politisch wirksam. Wer das Bürgergeld pauschal als Einladung zur Arbeitsverweigerung darstellt, lenkt von tiefer liegenden Problemen ab:
- Ein Niedriglohnsektor, der trotz Vollzeit keine echte Teilhabe ermöglicht.
- Ein Sozialstaat, der auf Mitwirkungspflichten setzt, aber Beratung und Unterstützung oft überfordert.
- Ein politischer Diskurs, der Erwerbslose moralisch abwertet, statt strukturelle Ursachen zu bekämpfen.
Die Zahlen aus der WSI-Studie zeigen: Das Bürgergeld ist kein luxuriöses Alternativmodell zur Arbeit, sondern eine absichernde, aber knappe Leistung. Doch populistische Stimmen aus Politik und Medien benutzen es weiterhin als Projektionsfläche für gesellschaftliche Frustrationen.
Die Debatte braucht weniger Ideologie – und mehr soziale Ehrlichkeit
Die Frage, ob sich Arbeit noch lohnt, kann man mit Blick auf die Daten klar beantworten: Ja – in Euro gerechnet schon. Doch die Debatte muss sich auch mit den gefühlten Realitäten auseinandersetzen: Mit prekären Arbeitsbedingungen, mangelnder Wertschätzung, geringer Planungssicherheit und fehlender politischer Aufklärung.
Wer will, dass Arbeit sich „mehr lohnt“, muss nicht das Bürgergeld kürzen, sondern:
- Löhne erhöhen,
- Zugang zu ergänzenden Leistungen vereinfachen,
und soziale Leistungen als das anerkennen, was sie sind: eine Absicherung – kein Anreiz zur Untätigkeit.
Hinweis für Betroffene
Wer aktuell Bürgergeld bezieht und überlegt, eine Arbeit aufzunehmen, sollte sich individuell beraten lassen – zum Beispiel beim Jobcenter, der Familienkasse oder einer unabhängigen Sozialberatung. Die Kombination aus Erwerbstätigkeit, Wohngeld, Kinderzuschlag und Freibeträgen kann sich lohnen – auch wenn es sich nicht immer so anfühlt.