Nach jahrelanger Suche findet eine Familie endlich eine barrierefreie Wohnung in passender Größe. Eine Fachstelle befürwortet die Anmietung. Trotzdem verweigert das Jobcenter die Zusicherung, weil die (bereits reduzierte) Miete noch über der Angemessenheitsgrenze liegt.
Genau an dieser Stelle kippt die Diskussion in vielen Fällen: Nicht mehr die Frage, was wegen der Behinderung notwendig ist, dominiert, sondern welche Zahl die Verwaltung als Grenze gesetzt hat.
Inhaltsverzeichnis
„Tatsächlich“ heißt nicht „immer“ – aber „angemessen“ ist auch kein Automatismus
Im Bürgergeld wie in der Sozialhilfe gilt derselbe Grundsatz: Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. In der Praxis wird daraus häufig eine harte Rechenoperation: Richtwert rein, Abweichung raus.
Gerade bei Schwerbehinderung ist das riskant, weil Barrierefreiheit nicht nur ein Wohnstandard ist, sondern oft die Voraussetzung dafür, dass Wohnen, Pflege oder Assistenz überhaupt funktionieren.
Die harte Kante: Behinderungsbedingt muss nicht nur „spürbar“, sondern „abgrenzbar“ sein
Das Bundessozialgericht hat am 8. Mai 2024 (B 8 SO 18/22 R) die Konfliktlinie sehr deutlich gemacht: Wohnen mehrere Personen zusammen, greift grundsätzlich das Kopfteilprinzip. Eine pauschale „Behinderungsquote“ auf die gesamte Miete gibt es nicht.
Gleichzeitig können Mehrkosten für Barrierefreiheit als zusätzliche Unterkunftskosten gerade der behinderten Person zugeordnet werden, wenn es sich um einen Bedarf allein aufgrund der Behinderung handelt – nur muss dieser Mehrbedarf im Streitfall tragfähig hergeleitet werden.
Im Verfahren hat der Senat den behinderungsbedingten Mehrbedarf mangels exakter Bezifferung geschätzt und sich dabei auf eine Auswertung gestützt, nach der barrierefreie Wohnungen im Schnitt 27 Prozent teurer sind. Dieser Mehrkostenanteil sollte insgesamt der behinderten Klägerin zugerechnet werden, weil nur für sie Barrierefreiheit erforderlich war.
Was das für die Praxis bedeutet, lässt sich an einem einfachen Denkmodell zeigen:
Zwei Personen wohnen zusammen. Ohne Barrierefreiheit wäre eine vergleichbare Wohnung günstiger; die Mehrkosten entstehen nicht „für beide“, sondern funktional nur für den behinderten Bewohner. Genau diese Trennung – allgemeines Wohnen versus behinderungsbedingter Aufschlag – ist in vielen Verfahren der Punkt, an dem Behörden ablehnen und Betroffene verlieren.
Mehrfläche: Nicht „größer wohnen“, sondern „wohnen können“
Mehrfläche wird in Bescheiden gern als Komfort gerahmt („auch Nichtbehinderte hätten gern mehr Platz“). In der Realität geht es oft um Wohnfunktionen, die ohne zusätzliche Fläche scheitern: Wendeflächen mit Rollstuhl, Transferzonen, ein Pflegebett, Hilfsmittelhandling, ein Bad, das überhaupt nutzbar ist, oder Raum, in dem Assistenz sicher arbeiten kann.
Der entscheidende Hebel ist deshalb nicht die Quadratmeter-Debatte, sondern die nachvollziehbare Frage: Welche konkrete Handlung ist ohne diese Fläche nicht möglich oder nicht zumutbar? Genau das meint die Linie des BSG, wenn es darauf abstellt, ob der Bedarf „allein aufgrund der Behinderung“ entsteht.
Umzug und teurerer Wohnraum: Zusicherung als Scharnier – und als Konfliktverstärker
Im Bürgergeldrecht ist die Zusicherung vor Abschluss eines neuen Mietvertrags ausdrücklich vorgesehen: Vor Vertragsschluss soll die leistungsberechtigte Person die Zusicherung zur Berücksichtigung der Aufwendungen einholen; in der Karenzzeit werden nach einem Umzug höhere als angemessene Aufwendungen nur anerkannt, wenn sie vorher zugesichert wurden.
Das ist der Punkt, an dem die Realität des barrierefreien Marktes besonders hart auf die Verwaltungssystematik trifft: Wer endlich eine geeignete Wohnung findet, hat häufig wenig Zeit – die Behörde prüft aber nach Schema und verweist auf Richtwerte.
Typische Ablehnungslogik – und wo sie inhaltlich zu kurz greift
Viele Ablehnungen folgen einer ähnlichen Dramaturgie: Die Behörde verweist auf eine Angemessenheitsgrenze, behauptet, es gebe günstigere Wohnungen, und behandelt Mehrfläche als Wunsch statt als Funktion. Bei gemeinsamer Wohnung kommt hinzu, dass die Kosten pauschal aufgeteilt werden, ohne zu prüfen, ob ein abgrenzbarer behinderungsbedingter Mehrkostenanteil existiert.
Genau an dieser Stelle zeigt sich, wie sehr Verfahren davon abhängen, ob der Bedarf so beschrieben ist, dass er als behinderungsbedingt und zuordenbar gilt.
Wenn KdU deckelt: Die „zweite Spur“ über soziale Teilhabe – aber nur für den behinderungsbedingten Mehrteil
Ein wichtiger Mehrwert für Betroffene ist die Einsicht, dass „zu teuer“ nicht automatisch das Ende der Prüfung sein muss. Das Bundessozialgericht hat am 4. April 2019 (B 8 SO 12/17 R) entschieden, dass Bedarfe für Unterkunftskosten für behinderte Menschen auch zuschussweise durch Leistungen der Eingliederungshilfe oder der sozialen Teilhabe gedeckt werden können, soweit es um Kosten geht, die behinderungsbedingt über den abstrakt angemessenen Wohnkosten liegen.
Der gesetzliche Rahmen passt dazu: Leistungen zur sozialen Teilhabe sollen eine möglichst selbstbestimmte Lebensführung im eigenen Wohnraum ermöglichen; Leistungen für Wohnraum umfassen insbesondere Beschaffung, Umbau, Ausstattung und Erhaltung behindertengerechten Wohnraums.
Das ist kein Freifahrtschein für jede teure Wohnung, aber ein rechtlich belastbarer Ansatz, wenn sich ein behinderungsbedingter Mehrkostenanteil sauber begründen lässt.
Was in der Praxis entscheidet: Aus „Bedarf“ muss eine belastbare Begründung werden
Die Verfahren kippen selten an der Diagnose, sondern an der Übersetzung in Wohnfunktionen und Marktlogik. Tragfähig wird ein Fall hauptsächlich dann, wenn sich drei Dinge sauber zeigen lassen:
erstens, welche konkrete Wohnfunktion ohne Barriere oder Mehrfläche nicht möglich oder unzumutbar ist;
zweitens, dass die Mehrkosten nicht „allgemein“, sondern funktional behinderungsbedingt sind und sich bei gemeinsamer Wohnung abgrenzen lassen;
drittens, dass der Wohnungsmarkt für passende barrierefreie Alternativen faktisch eng ist – und „es gäbe etwas Günstigeres“ nicht mehr als Behauptung bleibt. Diese Struktur entspricht genau der Linie, die das BSG 2024 mit der Abgrenzbarkeit und der Zuordnung behinderungsbedingter Mehrkosten betont.
FAQ
Kann eine Wohnung trotz Überschreitung der Mietgrenze übernommen werden?
Im Einzelfall ja, wenn Barrierebedarf und Marktenge eine abweichende Bewertung tragen.
Reicht „Schwerbehinderung“ als Begründung für mehr Wohnfläche?
Entscheidend ist nicht der Status, sondern die konkrete Wohnfunktion (Rollstuhl, Pflege, Assistenz, Hilfsmittel) und ob der Mehrbedarf allein behinderungsbedingt ist.
Warum ist gemeinsames Wohnen (Partner, Familie, WG) so konfliktträchtig?
Weil grundsätzlich das Kopfteilprinzip gilt und nur ein abgrenzbarer behinderungsbedingter Mehrkostenanteil zusätzlich zugeordnet wird.
Gibt es einen Ausweg, wenn KdU nur bis „angemessen“ anerkannt wird?
Unter Umständen kann ein behinderungsbedingter Mehrkostenanteil zuschussweise über Eingliederungshilfe oder soziale Teilhabe in Betracht kommen, soweit er über dem abstrakt Angemessenen liegt.
Quellenübersicht
- § 22 SGB II – Bedarfe für Unterkunft und Heizung (Angemessenheit; Zusicherung vor Vertragsschluss).
- § 35 SGB XII – Bedarfe für Unterkunft und Heizung.
- Bundessozialgericht, Urteil vom 08.05.2024 – B 8 SO 18/22 R (barrierefreie Wohnung; Kopfteilprinzip; behinderungsbedingte Mehrkosten; Schätzung 27 Prozent).
- Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 23.10.2023 (Zusicherung; Marktenge; behindertengerechter Wohnraum; Beispiel Bremen).
- Bundessozialgericht, Urteil vom 04.04.2019 – B 8 SO 12/17 R (behinderungsbedingte Unterkunftsmehrkosten ggf. zuschussweise als Leistung der sozialen Teilhabe/Eingliederungshilfe).
- § 76, § 77 SGB IX – Soziale Teilhabe und Leistungen für Wohnraum.




