Schwerbehinderung: Sturzgefahr als Schlüssel für höheren Pflegegrad und das Merkzeichen aG

Die nüchterne Formulierung „Sturzgefahr“ klingt unscheinbar – in der Praxis entscheidet sie jedoch häufig darüber, ob pflegebedürftige Menschen mehr Unterstützung erhalten.

Denn die Gefahr, zu stürzen, schlägt sich im deutschen Begutachtungsinstrument an mehreren Stellen nieder und kann so messbar zu einem höheren Punktwert und am Ende zu einem höheren Pflegegrad führen. Wichtig ist: „Sturzgefahr“ ist kein bloßes Bauchgefühl, sondern lässt sich medizinisch dokumentieren – in der deutschen ICD-10-GM etwa mit dem Code R29.6 „Sturzneigung“.

Eine ärztliche Bescheinigung und gut aufbereitete Unterlagen helfen, dieses Risiko im Begutachtungstermin nachvollziehbar zu machen.

So arbeitet die Begutachtung: sechs Module, klare Gewichtung

Die Pflegekasse beauftragt den Medizinischen Dienst (oder Medicproof bei Privatversicherten) mit einer Begutachtung nach sechs Modulen. Diese fließen mit unterschiedlicher Gewichtung in den Endwert ein: Mobilität 10 Prozent, Selbstversorgung 40 Prozent, Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen 20 Prozent, entweder Modul 2 oder Modul 3 mit 15 Prozent (je nachdem, wo die stärkere Beeinträchtigung vorliegt), sowie Alltagsleben/soziale Kontakte mit 15 Prozent.

Aus der gewichteten Summe ergibt sich der Pflegegrad. Maßgeblich sind feste Schwellen: 27 bis unter 47,5 Punkte entsprechen Pflegegrad 2.

Modul 1 – Mobilität: Begleitung wegen Sturzrisiko zählt

Im Mobilitätsmodul wird unter anderem das Treppensteigen bewertet – und zwar unabhängig davon, ob zu Hause überhaupt Treppen vorhanden sind. Wer eine Treppe grundsätzlich allein bewältigen kann, aber wegen einer realen Sturzgefahr Begleitung braucht, gilt hier „überwiegend selbstständig“.

Muss dagegen tatsächlich gestützt oder festgehalten werden, ist die Einstufung „überwiegend unselbstständig“.

Diese Abstufung ist für die Punktevergabe entscheidend. Ähnlich wirkt sich Sturzgefahr beim Umsetzen, beim Halten der Sitzposition oder bei der Fortbewegung in der Wohnung aus, wenn aus Sicherheitsgründen Anwesenheit oder Hilfen erforderlich sind.

Modul 2 und Modul 3 – hier bringt Sturzgefahr nur indirekt etwas

Kognitive/kommunikative Fähigkeiten (Modul 2) sowie Verhaltensweisen/psychische Problemlagen (Modul 3) betreffen primär Gedächtnis, Orientierung, Antrieb oder psychische Auffälligkeiten. Sturzgefahr selbst erzeugt hier keine direkten Punkte – allenfalls mittelbar, wenn etwa Angst vor Stürzen zu nächtlicher Unruhe oder Vermeidungsverhalten führt, das personelle Unterstützung nötig macht.

Modul 4 – Selbstversorgung: Duschen, An-/Auskleiden, Toilette

Deutlich greifbar wird das Sturzrisiko bei der Körperpflege. Beim Duschen/Baden reicht bereits die erforderliche Anwesenheit einer Person aus Sicherheitsgründen für eine Abwertung der Selbstständigkeit – ausdrücklich so in Fachunterlagen beschrieben.

Gleiches gilt, wenn beim Ein- und Aussteigen aus der Wanne, beim Abtrocknen oder beim Waschen der Haare helfende Griffe nötig sind. Beim An- und Auskleiden, insbesondere am Unterkörper, führt ein wackeliger Stand dazu, dass Hilfen notwendig werden.

Beim Benutzen der Toilette oder eines Toilettenstuhls kann die vertraute heimische Umgebung Defizite kompensieren; außerhalb – etwa in der Praxis oder der Therapieeinrichtung – macht die fehlende Ausstattung die eigentlich nötige Unterstützung deutlich. All das sind pflegerelevante Situationen, in denen Sturzgefahr zu realen Punkten führt.

Modul 5 – Krankheits- und therapiebedingte Anforderungen: Übungen und Physiotherapie sicher begleiten

Wer zu Hause verordnete Übungen (zum Beispiel wiederholtes Aufstehen-Hinsetzen) absolvieren soll, braucht bei Sturzgefahr oftmals Anleitung, Beaufsichtigung oder aktive Unterstützung.

Das ist im Modul 5 zu berücksichtigen – ebenso die Begleitung zu Physiotherapien oder anderen Behandlungen, wenn das Sturzrisiko den Weg oder das Umsetzen unsicher macht.

Die Häufigkeit (täglich, wöchentlich) wird in Punktwerte umgerechnet; regelmäßige Maßnahmen können hier spürbar ins Gewicht fallen.

Modul 6 – Ruhen und Schlafen: punktueller Nachtbedarf zählt

Auch nächtlicher Hilfebedarf – etwa unsicheres Aufstehen zur Toilette, notwendige Unterstützung beim Zu-Bett-Gehen oder kurzzeitige Anwesenheit, weil die Person wackelig auf den Beinen ist – fließt in Modul 6 ein. Schon „gelegentlich“ kann das zu einer Abwertung der Selbstständigkeit führen; „regelmäßig“ erhöht die Gewichtung.

Vom Risiko zum Pflegegrad

In der Summe kann eine sorgfältig dokumentierte Sturzgefahr – über Mobilität, Selbstversorgung, Therapiebegleitung und punktuelle Nachtbetreuung – den Sprung in Pflegegrad 2 ermöglichen. Ob das gelingt, hängt vom individuellen Gesamtbild ab; entscheidend ist die plausible Begründung im Gutachten und die ärztliche Dokumentation (z. B. R29.6) samt konkreter Beispiele aus dem Alltag.

Ein Sturz- oder Hilfeprotokoll, Therapiepläne und Verordnungen sind hier Gold wert.

Leistungen 2025: Was Pflegegrad 2 konkret bringt

Seit 1. Januar 2025 sind viele Pflegeleistungen um 4,5 Prozent erhöht. Für Pflegegrad 2 gelten aktuell: Pflegegeld 347 € monatlich (bei häuslicher Pflege durch Angehörige) oder Pflegesachleistungen bis 796 € monatlich (ambulante Dienste), beides auch als Kombinationsleistung möglich.

Zudem steht der Entlastungsbetrag von 131 € pro Monat für anerkannte Unterstützungsangebote zur Verfügung. Die Beträge stammen aus der amtlichen Übersicht des Bundesgesundheitsministeriums.

Zum 1. Juli 2025 wurden Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege in einem gemeinsamen Jahresbetrag zusammengeführt: bis zu 3.539 € pro Kalenderjahr, flexibel einsetzbar.

Bereits im ersten Halbjahr 2025 beanspruchte Mittel werden auf den Jahresbetrag angerechnet. Das neue System vereinfacht die bislang komplizierten Übertragungen zwischen beiden Töpfen deutlich.

Der Entlastungsbetrag lässt sich in Folgemonate übertragen und bis zum 30. Juni des Folgejahres nachnutzen; ungenutzte Vorjahresreste verfallen danach. Diese Frist ist wichtig für die Planung.

Zusätzlich gibt es Pflegehilfsmittel zum Verbrauch mit einer Monatspauschale von 42 € (z. B. Handschuhe, Desinfektion), wohnumfeldverbessernde Maßnahmen mit Zuschüssen bis 4.180 € je Maßnahme sowie Zuschüsse für digitale Pflegeanwendungen (DiPA).

Für viele Betroffene sinnvoll ist ein Hausnotruf: Die Pflegekasse bezuschusst anerkannte Systeme typischerweise mit 25,50 € monatlich; Zusatzfunktionen wie Sturzsensoren können Mehrkosten verursachen.

„aG“-Merkzeichen: Sturzgefahr allein genügt nicht

Die im Schwerbehindertenrecht begehrte Kennzeichnung „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) wird nur bei schwersten Mobilitätseinschränkungen zuerkannt. Die Rechtsprechung betont, dass Sturzgefahr allein das Merkzeichen nicht rechtfertigt – es braucht eine dauerhaft extrem eingeschränkte Fortbewegungsfähigkeit, die regelmäßig der Notwendigkeit eines Rollstuhls gleichkommt.

Wer mit „aG“ liebäugelt, sollte sich an den rechtlichen Kriterien orientieren und ärztliche Gutachten gezielt darauf ausrichten, statt allein auf den Begriff „Sturzgefahr“ zu setzen.

Praxis-Tipps für die Einstufung: Dokumentieren, attestieren, konkretisieren

Entscheidend ist, das Risiko in Alltagssituationen greifbar zu machen: Wann genau ist Begleitung nötig? Welche Momente sind kritisch (Dusche, Treppe, nächtlicher Toilettengang, Umsetzen auf die Toilette oder den Rollstuhl, Wege zur Therapie)?

Ärztliche Atteste, Verordnungen, Therapiepläne und ein kurzes Sturz- bzw. Hilfe-Protokoll schaffen Nachvollziehbarkeit und erleichtern dem Gutachter eine realitätsnahe Bewertung – ganz im Sinne des Instruments, das auf konkrete Aktivitäten und tatsächliche Selbstständigkeit abstellt.

Fazit

„Sturzgefahr“ ist kein Nebenaspekt, sondern ein handfester Bewertungsfaktor – gerade dann, wenn Begleitung oder Hilfen aus Sicherheitsgründen erforderlich sind. Wer das systematisch belegt, kann spürbare Punktegewinne in mehreren Modulen erzielen und damit einen höheren Pflegegrad erreichen.

Gleichzeitig sollte man realistisch bleiben: Für sozialrechtliche Nachteilsausgleiche wie das Merkzeichen „aG“ ist die Hürde deutlich höher. Mit sauberer Dokumentation, ärztlicher Bestätigung und einer klaren Darstellung der Alltagssituationen lässt sich jedoch viel erreichen – und es stehen 2025 substanziell erhöhte Leistungen bereit, um Sicherheit und Selbständigkeit zu stabilisieren. Stand: 11. Oktober 2025 (Deutschland).