Das Verwaltungsgericht Gießen lehnte die Klage eines Klägers mit Schwerbehinderung ab, der für eine Abschlussprüfung als Nachteilsausgleich eine persönliche Assistenz begehrte. Die Ausführungen des Gerichts zeigen klar den Sinn von Nachteilsausgleichen und auch deren gut begründete Grenzen. (8 K 343217GI)
Inhaltsverzeichnis
Seh- und Sprachstörung
Der Betroffene leidet an einem eingeschränkten Gesichtsfeld und einer Sprachstörung infolge einer Hirnblutung. Deshalb hat er als Menschen mit Behinderung Anspruch auf Nachteilsausgleiche. Bei schriftlichen Prüfungen erhielt er Zeitverlängerungen um ein Drittel der Prüfungszeit.
Die Industrie- und Handelskammer verlängerte diese Verlängerung dann auf 50 Prozent der Prüfungszeit. Die Prüfungsaufgaben wurden für ihn außerdem optisch vergrößert, um seiner Sehstörung gerecht zu werden.
Was begehrte der Betroffene?
Der Betroffene begehrte für seine Abschlussprüfung als Verkäufer zusätzlich als Nachteilsausgleich eine persönliche Assistenz für die mündliche Prüfung. Diese sollte ihm die Prüfungsfragen in einfache Sprache übertragen und ihm helfen, die Antworten auf die Fragen zu formulieren. Da sein Arbeitgeber dies ablehnte, klagte er vor Gericht.
Die Richter lehnen persönliche Assistenz ab
Die Richter werten Gutachten von Fachärzten aus und hörten den Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderung an. Danach lehnten sie das Begehren des Klägers ab. In ihrer Begründung führten sie aus, warum Nachteilsausgleiche notwendig sind und wo ihre Grenzen liegen.
Chancengleichheit bei Prüfung der Leistung
Nachteilsausgleiche seien grundsätzlich zu gewähren, um eine Chancengleichheit herzustellen. Die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen bräuchten besondere äußere Bedingungen, damit sie die Leistungsanforderungen erfüllen könnten.
Wo liegen die Grenzen?
Die Grenze dieser Nachteilsausgleiche seien aber dort erreicht, wo sich der wahre Leistungsstand nicht mehr ermitteln ließe. Ein Nachteilsausgleich käme nicht infrage, wenn die entsprechenden Einschränkungen gerade den Kernbereich beträfen, die die jeweilige Prüfung gerade feststellen sollte.
Die Richter hielten das bei den sprachlichen Einschränkungen des Betroffenen für gegeben, denn diese stellten einen Kernbereich des Leistungsbildes seines Ausbildungsberufes dar.
Vereinfachung verändert den Inhalt
Wenn eine persönliche Assistenz die Fragen vereinfache, dann verändere sie damit unter Umständen auch den Inhalt und die gestellten Aufgaben. Wenn die Assistenz außerdem Hilfe leiste, um Antworten zu formulieren, sei der wirkliche Leistungsstand des Betroffenen im Vergleich zu den anderen Prüflingen nicht zu ermitteln.
Was bedeutet dieses Urteil?
Ein Nachteilsausgleich bei Prüfungen und am Arbeitsplatz soll Menschen mit Behinderungen die äußeren Bedingungen schaffen, damit sie in der Lage sind, die geforderte Leistung zu erbringen. In diesem Fall hätte der Betroffene zum Beispiel ohne optische Vergrößerungen die Aufgaben der schriftlichen Prüfung nicht lösen können.
Er hätte also ohne diesen Nachteilsausgleich überhaupt nicht nachweisen können, dass er die Anforderungen der Prüfung erfüllt. Das gilt auch für die verlängerte Zeit, die er für das Erledigen der schriftlichen Prüfung hatte. Inhaltlich änderte sich jedoch nichts. Hier musste er dieselben Anforderungen erfüllen wie die anderen Prüflinge.
Anders sah es bei der Assistenz aus. Diese hätte inhaltlich in die mündliche Prüfung eingegriffen und damit wäre es nicht mehr möglich gewesen, objektiv seine eigene Leistung zu bewerten.
Was bedeutet Kernbereich?
Ein wesentlicher Punkt ist der von den Richtern ausgeführte Kernbereich. Es handelt sich um Diskriminierung, wenn ein Mensch mit Behinderung wegen seiner Behinderung von einer Beschäftigung ausgeschlossen wird, die er mit Nachteilsausgleichen ausführen könnte.
Wann liegt keine Diskriminierung vor?
Es handelt sich aber nicht um eine Diskriminierung, wenn ein Mensch mit Behinderung aufgrund seiner (körperlichen, psychischen oder geistigen) Einschränkung die Anforderungen in einem bestimmten Bereich nicht erfüllen kann – trotz Nachteilsausgleichen. Zum Beispiel werden Sie mit einem höheren Grad der Behinderung wegen einer bipolaren Erkrankung kein Pilot werden können.
Die Richter entschieden in diesem Fall jetzt, dass das Sprachvermögen beziehungsweise die sprachlichen Einschränkungen gerade einen Kernbereich seines Ausbildungsberufs betreffen. Hier musste also eine Prüfung ohne Veränderungen durch einen Dritten erfolgen, um zu beurteilen, ob seine Leistungen den Anforderungen entsprechen.




