Rente durch die Hintertür gekürzt? – Die Rentenreform trifft die Falschen

Die Ampel ist Geschichte, die neue Koalition regiert – und im Koalitionsvertrag ist keine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze vereinbart. Fakt ist aber auch: Die Regelaltersgrenze steigt bereits heute stufenweise auf 67 Jahre, endgültig für alle ab Jahrgang 1964 – also bis 2031. Trotzdem flammt die Debatte wieder auf.

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) drängt auf längeres Arbeiten und lässt entsprechende Vorschläge prüfen. Regierungsberaterinnen und -berater gehen noch weiter: Sie wollen das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln – mit Szenarien, in denen bis 2060 ein Renteneintritt mit 73 denkbar wäre.

Was die Ökonomen fordern – und was das bedeuten würde

Die Ökonominnen und Ökonomen um Veronika Grimm, Justus Haucap, Stefan Kolev und Volker Wieland argumentieren, Deutschland stehe wirtschaftlich unter Druck: geringe Produktivitätszuwächse, Demografie, hohe Sozialausgaben.

Ihre Antwort: länger arbeiten, Frühverrentungswege begrenzen, das Rentenalter dynamisch an die Lebenserwartung knüpfen. CDU/CSU-Fraktionschef Jens Spahn sekundiert: Bis 2030/31 steige das Regelalter auf 67 – danach werde es weiter schrittweise Anpassungen geben müssen.

Die Idee klingt auf dem Papier „neutral“: Wenn wir älter werden, arbeiten wir länger. Doch neutral ist das nur, wenn alle gleiche Chancen haben, alt zu werden – und das stimmt in Deutschland schlicht nicht.

Harter Alltag, kürzeres Leben: Die vergessene Seite der Statistik

Gewerkschaften und Sozialverbände warnen: Eine pauschale Erhöhung benachteiligt genau jene, die ohnehin am kürzesten leben – Beschäftigte mit harten, körperlich belastenden Erwerbsbiografien.

Die Daten sind eindeutig: Laut DIW-Analyse (2021) beträgt die durchschnittliche Restlebenserwartung mit 65 bei Beamten rund 21,5 Jahre, bei Arbeitern hingegen nur 15,9 Jahre.

Das ist eine Differenz von gut fünf Jahren – bei Männern sogar noch ausgeprägter. Wer sein Leben lang malocht und lückenlos Beiträge zahlt, hat statistisch deutlich weniger Rentenjahre.

Auch die Sterblichkeitszahlen zeigen, wie schief das Bild ist: In Deutschland war jeder Sechste bis Fünfte der Verstorbenen jünger als 67. Wer das Regelalter gar nicht erlebt, profitiert nie von der eigenen Einzahlung. Wird die Latte höher gelegt, wächst diese stille Ungerechtigkeit.

„Rentenkürzung durch die Hintertür“ – trifft das zu?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund nennt eine weitere Anhebung des Rentenalters eine „Rentenkürzung durch die Hintertür“. Das ist hart formuliert, aber im Ergebnis nachvollziehbar:

Hebt man das Regelalter pauschal an, sinken faktisch die ausgezahlten Rentenjahre – vor allem für jene mit geringerer Lebenserwartung. Sozial fair wäre eine Reform nur, wenn sie Ungleiches ungleich behandelt.

Der blinde Fleck der Berater: Heterogene Lebenserwartung

Wer die Regelaltersgrenze linear an die Lebenserwartung koppeln will, muss die Unterschiede bei der Lebenserwartung mitdenken. Sonst entsteht eine Mogelpackung: Die statistischen „Durchschnittsjahre“ verteilen sich nicht gleichmäßig über Klassen, Berufe und Einkommen. Körperlich belastete Tätigkeiten, Schichtarbeit, prekäre Jobs – genau dort ist die Lebenserwartung niedriger.

Eine faire Kopplung müsste folgerichtig differenzieren, etwa über abschlagsfreie Wege für besonders belastete Erwerbsbiografien, großzügigere Zurechnungszeiten in der Erwerbsminderungsrente oder berufsspezifische Übergänge. Alles andere verschiebt Lasten von oben nach unten.

Rechtslage heute: Was gilt, was ändert sich?

Zur Einordnung: Die Regelaltersgrenze steigt bereits seit Jahren und erreicht 2031 die 67. Vorzeitige Renten sind möglich – mit Abschlägen. Für besonders langjährig Versicherte (45 Jahre) gibt es die Rente ohne Abschläge früher.

Der politische Streit dreht sich jetzt darum, ob nach 2031 erneut erhöht, ob die „Rente mit 63“ weiter beschnitten oder ganz gestrichen wird – und ob die Kopplung an die Lebenserwartung kommt. All das hätte massive Verteilungswirkungen.

Was wäre eine gerechte Alternative?

Wer das System stabilisieren will, ohne die soziale Schieflage zu verschärfen, hat Optionen – ohne pauschale Erhöhung des Regelalters:

Erstens: Erwerbstätigenversicherung. Alle zahlen ein – Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbstständige, Abgeordnete. Breitere Basis, stabilere Finanzierung. Länder wie Österreich zeigen, dass ein breites Umlagesystem starke Renten ohne spätere Eintrittsalter ermöglicht.

Zweitens: Gute Arbeit statt späte Arbeit. Wer wirklich länger arbeiten kann, braucht gesundheitsgerechte Arbeitsplätze, Weiterbildung und flächendeckende Prävention – nicht nur Appelle. Jede vermiedene Erwerbsminderung spart Beiträge und Leid.

Drittens: Zuwanderung, Produktivität, Tarifbindung. Mehr qualifizierte Zuwanderung, höhere Erwerbsbeteiligung, bessere Tarifbindung und Investitionen in Produktivität entlasten die Rentenkasse nachhaltig – ohne die Rechnung allein älteren Beschäftigten zu präsentieren.

Viertens: Zielgenaue Differenzierung. Statt „one size fits all“ braucht es klare Erleichterungen für schwere Berufe, eine realistische Bewertung von Schicht- und Akkordarbeit sowie verlässliche Wege in die Erwerbsminderungsrente, die nicht mit Hürden überzogen sind.

Reform ja – aber ehrlich und fair

Die nüchterne Wahrheit lautet: Ja, die Demografie fordert ihren Preis. Aber eine pauschale Anhebung des Rentenalters ist keine naturgesetzliche Notwendigkeit, sondern eine politische Entscheidung – mit klaren Gewinnern und Verlierern.

Wer wirklich an der Lebenserwartung ansetzen will, muss deren Ungleichheit ernst nehmen. Alles andere ist ökonomisch kurzsichtig und sozial ungerecht. Die gerechte Reform beginnt nicht bei „mehr Lebensjahren für alle“, sondern bei mehr Rentenjahre für diejenigen, die sie heute am wenigsten haben.