Wer mehr Pflege braucht, darf sich nicht mit einem zu niedrigen Pflegegrad zufriedengeben. Eine Höherstufung ist möglich – und oft nötig, damit Pflegegeld, Sachleistung, Kombinationsleistung, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege im richtigen Umfang fließen. Entscheidend sind drei Dinge: der richtige Zeitpunkt für den Antrag, belastbare Nachweise für den gestiegenen Bedarf und ein sauber begründeter Widerspruch, falls die Pflegekasse bremst.
Inhaltsverzeichnis
Wann lohnt der Höherstufungsantrag?
Ein Antrag auf Höherstufung ist sinnvoll, wenn sich die Selbstständigkeit dauerhaft (voraussichtlich mindestens sechs Monate) verschlechtert hat – etwa durch neue Diagnosen, häufigere Stürze, nächtliche Hilfe, stärkere Einschränkungen bei Körperpflege/Anziehen/Essen, mehr Hilfe bei Medikamenten, Injektionen, Wund- oder Katheterversorgung, häufige Arzt-/Therapiewege oder ausgeprägte kognitive/psychische Probleme.
Maßgeblich sind die sechs Bewertungsmodule des MD-Begutachtungsinstruments; besonders gewichtet werden Selbstversorgung (40 %) und der Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen (20 %). Wer hier real Punkte hinzugewinnt, überschreitet oft die nächste Pflegegrad-Schwelle. (Zur Systematik unten mehr.)
Wichtig: Leistungen steigen nicht automatisch mit der Verschlechterung – sie steigen ab Antrag. Wer zuwartet, verliert Geld für jeden Monat ohne Antrag.
Leistungsbeginn: Ab wann wirkt die Höherstufung?
Pflegeleistungen gibt es auf Antrag. Die höheren Leistungen laufen ab Beginn des Monats der Antragstellung, frühestens ab dem Zeitpunkt, zu dem die Voraussetzungen tatsächlich vorlagen. Darum: Höherstufung sofort beantragen, nicht „erst mal abwarten“. (§ 33 SGB XI.)
So prüft der MD den Pflegegrad – und wo die Punkte herkommen
Die Pflegekasse beauftragt den Medizinischen Dienst (MD) mit der Begutachtung. Standard ist der Hausbesuch; zulässig sind – mit klaren Voraussetzungen – auch strukturierte Telefon- und Videobegutachtungen. Bewertet wird in sechs Modulen, die zu 0–100 Punkten führen. Ab 12,5 Punkten liegt Pflegebedürftigkeit vor, die Pflegegrad-Schwellen sind:
PG 1: 12,5–<27 | PG 2: 27–<47,5 | PG 3: 47,5–<70 | PG 4: 70–<90 | PG 5: ≥90 (bzw. besondere Bedarfskonstellation).
Nur der höhere Wert aus Modul 2 (kognitive/kommunikative Fähigkeiten) oder Modul 3 (Verhaltensweisen/psychische Problemlagen) fließt ein; die übrigen Module (1, 4, 5, 6) werden voll gewichtet.
Für Höherstufungen entscheiden oft Alltags-Basics (Waschen, Ankleiden, Toilettengang, Essen/Trinken) und Therapie/Medikation/Wunden mehr als seltene „Highlight-Situationen“. Genau dort muss die Dokumentation sitzen.
Unterlagen, die den MD überzeugen:
Halten Sie zum Termin (und für den Widerspruch) Kopien bereit:
- Pflegetagebuch über mindestens 14 Tage (besser 28): Uhrzeiten, Dauer, konkrete Handgriffe, nächtliche Hilfe, Belastungsspitzen.
Arzt- und Entlassungsberichte, Diagnosen mit Funktionsbezug (z. B. neurologische Ausfälle), Therapiepläne (Physio/Ergo/Logo), Wund-/Sturzprotokolle, Schmerz-Scores. - Medikamentenplan inkl. Injektionen/Infusionen, Blutzucker/Blutdruck-Handling, Verbandswechsel.
- Pflegerische Nachweise: Protokolle nach § 37 Abs. 3 SGB XI (Beratungseinsätze), Pflegedienst-Dokumentation (wenn vorhanden).
- Hilfsmittel: Verordnungen/Bewilligungen (z. B. Duschstuhl, Pflegebett, Inkontinenz, Gehhilfen), Anpassungen im Wohnumfeld.
- Alltagsbelege: Fotos kurzer Distanzen/engem Bad, Notruf-Auslösungen, Termin-/Fahrtenlisten zu Ärzten/Therapien.
Legen Sie die Unterlagen modulbezogen in einem dünnen Hefter ab („M4 Selbstversorgung“, „M5 Therapieanforderungen“ …). So findet die Gutachterin die Belege sofort.
Pflegetagebuch: So zeigen Sie den Mehrbedarf nachvollziehbar
Dokumentieren Sie realistisch, nicht „heldenhaft“. Beispiel statt Floskel: „Oberkörper waschen 10 min mit kompletter Übernahme; Unterkörper 12 min mit Lagerung; Ankleiden Unterteil 8 min mit 2×Aufstehen, starker Luftnot“. Notieren Sie Nächte (Aufstehen, Umlagern, Inkontinenz). Führen Sie Schwankungen (gute/schlechte Tage) mit. Entscheidend ist, welche Tätigkeiten ohne Hilfe nicht gelingen – nicht, wie „tapfer“ improvisiert wird.
Fristen, die Sie kennen und durchsetzen sollten
Bescheid der Pflegekasse: spätestens 25 Arbeitstage nach Antragseingang. Wird die Frist (ohne Ihre Mitverzögerung) gerissen, stehen 70 € je begonnene Woche zu – gesondert verlangen.
Begutachtung schneller bei Krankenhaus/Reha/Hospiz/Palliativfällen (5 Arbeitstage) oder bei angekündigter Pflegezeit/Familienpflegezeit (10 Arbeitstage).
Widerspruchsfrist: 1 Monat ab Bekanntgabe des Bescheids. Seit 01.01.2025 gilt: Schriftliche (und elektronische) Bescheide gelten am 4. Tag nach Absendung als zugegangen (Zustellfiktion). Fehlt/fehltte die Rechtsbehelfsbelehrung, gilt in der Regel 1 Jahr.
Untätigkeitsklage: Kommt innerhalb von 3 Monaten kein Widerspruchsbescheid, kann Klage auf Entscheidung erhoben werden.
Widerspruch – so gehen Sie Schritt für Schritt vor
- Frist sichern: „Fristwahrender Widerspruch“ in Textform (Brief, Fax; elektronisch nur bei eröffnetem e-Zugang) mit Datum des Bescheids und Ihrer Versicherungs-/Aktennummer.
- Gutachten anfordern: Fordern Sie das vollständige MD-Gutachten und die zugrunde gelegten Unterlagen an. Prüfen Sie Punktwerte und die Begründung je Modul.
- Begründung modulgenau: Arbeiten Sie mit Ihrem Pflegetagebuch und Belegen pro Modul durch, wo der Bedarf unterschätzt wurde (z. B. „M4 Selbstversorgung: Körperpflege vollständig zu übernehmen; MD setzte ‘überwiegend selbständig’ = falsch. Nachweise: Pflegedienstdoku 05–08/2025, Fotos Bad, Wundversorgung“).
- Anträge formulieren: „Neufeststellung“ mit erneuter persönlicher Begutachtung beantragen; hilfsweise Befristung prüfen lassen, wenn absehbare Änderung; Fristversäumnis-Pauschale verlangen (70 €/Woche), falls einschlägig.
- Entscheidung abwarten – dann ggf. Klagen: Bei Zurückweisung bleibt die Klage innerhalb eines Monats.
Frist verpasst? Überprüfungsantrag nutzen
Ist der Bescheid bereits unanfechtbar, kann ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X falsche Entscheidungen korrigieren. Bei Erfolg werden Leistungen rückwirkend nachgezahlt – grundsätzlich bis zu vier Jahre, gerechnet ab Beginn des Jahres der Antragstellung. Das ersetzt keinen laufenden Widerspruch, ist aber der Rettungsanker, wenn Fristen vorbei sind.
Kinder & besondere Konstellationen
Für Kinder gelten in der Begutachtung altersangepasste Kriterien; bei sehr kleinen Kindern gibt es Sonderzuordnungen. Eltern sollten die realen Mehrbedarfe (Therapie- und Arzttermine, Lagerung, Füttern, Sonden-/Stomapflege, Anfälle, Nachtüberwachung) konsequent modulbezogen dokumentieren und zum Termin mitbringen.
Häufige Kurzfragen
Muss ich den MD in die Wohnung lassen?
Die Regelbegutachtung findet im Wohnbereich statt. Videotelefonie/Telefon sind nur unter klaren Voraussetzungen möglich; Sie dürfen einen Hausbesuch wünschen.
Darf ich jemand dabeihaben?
Ja – Angehörige, Pflegeperson, rechtliche Betreuung oder ein(e) Beistand sind sinnvoll.
Elektronisch widersprechen?
Nur, wenn die Kasse elektronischen Zugang eröffnet hat (z. B. DE-Mail/BEA/eBO). Sicher ist schriftlich (Post/Fax) mit Nachweis.




