Obwohl Termin abgesagt wurde: Entziehung der aller Bürgergeld-Leistungen kurz vor Weihnachten

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Helena Steinhaus vom Verein “Sanktionsfrei e.V.” schildert einen aktuellen Fall, der in eine ganze Sozialrealität sichtbar macht: Eine schwerkranke Mutter hat weniger als zehn Euro auf dem Konto, und plötzlich kommt vom Jobcenter kein Bürgergeld mehr. Für die Betroffene, anonymisiert als „L.“ bezeichnet, bedeutet das nicht nur eine Lücke. Es bedeutet, dass das tägliche Leben innerhalb von Stunden ins Wanken geraten kann: Medikamente, Lebensmittel, Fahrtkosten zum Arzt, Stromabschläge, Miete.

Wer ohnehin krank ist, hat meist nicht die Kraft, sich durch Hotlines, Formulare und Fristen zu kämpfen. Genau dann aber verlangt das Bürgergeldsystem oft die meiste Energie.

Der Auslöser soll ein Termin beim Jobcenter gewesen sein, der wegen eines wichtigen Arztbesuchs rechtzeitig abgesagt wurde. Trotzdem seien laut Verein die Bürgergeld-Leistungen vollständig entzogen worden. Darf eine Behörde Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen angewiesen sind, faktisch ohne Geld dastehen lassen?

Entziehung der Bürgergeld-Leistungen

Sanktion, Entziehung, Zahlungsausfall

Helena Steinhaus, ordnet den Fall als rechtswidrige „Totalsanktion“ ein und verbindet ihn mit einem grundsätzlichen Vorwurf: Jobcenter würden Sachverhalte konstruieren, um Leistungen „über andere Wege“ komplett zu streichen, obwohl das Bundesverfassungsgericht Kürzungen über 30 Prozent im Jahr 2019 als unvereinbar mit dem Grundgesetz bewertet habe. Zugleich warnt sie vor einer Sozialpolitik, die Sanktionen ausweitet und damit Obdachlosigkeit wahrscheinlicher mache.

Im Alltag klingt es gleich, ob „das Jobcenter nicht zahlt“ oder „Leistungen entzogen“ wurden. Rechtlich sind das aber sehr unterschiedliche Vorgänge. Eine klassische Sanktion im Bürgergeld-System ist eine gesetzlich geregelte Leistungsminderung wegen Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnissen.

Daneben gibt es die Versagung oder Entziehung von Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung, etwa wenn die Behörde meint, entscheidende Angaben oder Nachweise fehlten und der Sachverhalt könne sonst nicht geklärt werden.

Dieser Weg hat hohe Anforderungen: Er setzt in der Regel voraus, dass Betroffene zuvor schriftlich auf die Folgen hingewiesen wurden und eine angemessene Frist zur Nachholung der Mitwirkung erhalten haben.

Genau dann entstehen viele Konflikte. Wer krank ist, Termine absagen muss oder Post nicht rechtzeitig öffnen kann, gerät schnell in eine Spirale aus Einladungen, Fristen und Missverständnissen.

Karlsruhe 2019: Begrenzung der Kürzungen

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 über die Sanktionsregeln in der damaligen Grundsicherung entschieden. Die Entscheidung gilt bis heute als Wegmarke, weil sie dem Gesetzgeber Grenzen setzt: Leistungsminderungen dürfen das Existenzminimum nicht beliebig unterschreiten, und Kürzungen von mehr als 30 Prozent wurden in der damaligen Ausgestaltung als verfassungsrechtlich nicht tragfähig bewertet.

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Gleichzeitig machte das Gericht deutlich, dass Sanktionen nicht automatisch und starr greifen dürfen. Es muss Raum geben, besondere Härten zu berücksichtigen, und die Minderung muss enden können, wenn Betroffene wieder mitwirken.

Wie Sanktionen im Bürgergeld derzeit geregelt sind

In der noch aktuellen Rechtslage sind bei Pflichtverletzungen grundsätzlich abgestufte Minderungen vorgesehen: Sie beginnen bei 10 Prozent des Regelbedarfs und können bei wiederholten Pflichtverletzungen steigen.

Für Meldeversäumnisse – also das Nichterscheinen zu Terminen oder Untersuchungen trotz Belehrung – ist ebenfalls eine Minderung vorgesehen, die jedoch entfällt, wenn ein wichtiger Grund dargelegt und nachgewiesen wird. Gerade hier wäre bei einem rechtzeitig abgesagten Arzttermin die Frage, ob dieser wichtige Grund anerkannt wurde oder ob es an Nachweisen, Fristen oder Kommunikation scheiterte.

Seit Ende März 2024 gibt es eine Sonderregelung für eine sehr kleine Gruppe, die als „nachhaltige Arbeitsverweigerer“ eingeordnet wird. In solchen Fällen kann der Regelbedarf für einen befristeten Zeitraum vollständig entfallen, während die Kosten der Unterkunft weiterhin übernommen werden. Diese Regelung wird von Befürwortern als Instrument gegen „Totalverweigerung“ beschrieben, von Kritikern als gefährlicher Präzedenzfall.

Was Akutfälle wie der von „L.“ über den Sozialstaat erzählen

Unabhängig davon, wie ein Einzelfall rechtlich ausgeht, zeigt die Schilderung etwas Strukturelles: Existenzsicherung funktioniert nicht nur über Gesetze, sondern über die Zuverlässigkeit von Verwaltung, Kommunikation und Ermessensentscheidungen.

Wenn Zahlungsläufe unterbrochen werden, entsteht sofort ein Risiko, das in keinem Verhältnis zu einer versäumten Einladung oder einem ungeklärten Formularfeld steht. Bei schwerkranken Menschen wird dieses Risiko noch größer, weil sie häufig schlechter in der Lage sind, Fristen einzuhalten, Nachweise zu beschaffen oder sich durch Widerspruchsverfahren zu arbeiten.

Hilfe Dank „Sanktionsfrei“

Organisationen wie „Sanktionsfrei“ besetzen eine Lücke zwischen Rechtsanspruch und Lebenswirklichkeit. Sie kombinieren Öffentlichkeitsarbeit mit Einzelfallhilfe, finanzieren kurzfristige Überbrückungen spendenbasiert und setzen auf rechtliche Klärung. Das ist manchmal umstritten – manche sehen darin eine notwendige Korrektur behördlicher Härten, andere eine Parallelstruktur, die den Sozialstaat delegitimiert.

Für Betroffene ist diese Debatte oft zweitrangig. In dem Moment, in dem der Kontostand auf Null fällt, zählt nicht die Systemfrage, sondern die Frage, ob morgen Essen, Medikamente und die Miete gesichert sind.

Sanktionsfrei hat zunächst Geld locker gemacht und unterstützt die Betroffene. Ein Anwalt wurde eingeschaltet und wird die Sache rechtlich prüfen und gegebenenfalls dagegen juristisch vorgehen.