Viele Krankenkassen stützen ihre Entscheidung auf eine sozialmedizinische Einschätzung des Medizinischen Dienstes (MD), wenn Krankengeld beendet oder in Frage gestellt werden soll. Wichtig ist dabei eine saubere Unterscheidung:
Das MD-Gutachten ist eine fachliche Grundlage – rechtswirksam wird erst der Bescheid der Krankenkasse. Gegen diesen Bescheid können Betroffene vorgehen, und zwar oft erfolgreicher, als es auf den ersten Blick wirkt, wenn sie strukturiert reagieren und medizinisch präzise nachlegen.
Inhaltsverzeichnis
Wo die typischen Schwachstellen von MD-Einschätzungen liegen
MD-Stellungnahmen entstehen nicht immer nach persönlicher Untersuchung. Häufig wird nach Aktenlage beurteilt, und genau dort entstehen in der Praxis die Angriffspunkte: veraltete Befunde, fehlende Verlaufsdokumentation, zu wenig Beschreibung der funktionellen Einschränkungen oder eine Betrachtung einzelner Diagnosen ohne Wechselwirkungen.
Besonders bei komplexen oder schwankenden Verläufen – etwa bei chronischen Schmerzen, Erschöpfungssyndromen oder psychischen Belastungen – reicht eine abstrakte Einschätzung („für leichte Tätigkeiten geeignet“) häufig nicht aus, um die Arbeitsunfähigkeit bezogen auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit überzeugend zu widerlegen.
Entscheidend ist nicht die Diagnose, sondern die Belastbarkeit
In Auseinandersetzungen um Krankengeld gewinnt selten die längste Diagnoseliste, sondern die beste Funktionsbeschreibung. Was kann die betroffene Person tatsächlich – wie lange, unter welchen Bedingungen, mit welchen Nachwirkungen?
Welche Anforderungen stellt der konkrete Arbeitsplatz (z. B. Schichtdienst, Kundenkontakt, Zeitdruck, körperliche Tätigkeiten, Fahrtwege, Bildschirmarbeit)? Je klarer behandelnde Ärzte diese Brücke zwischen Erkrankung und fehlender Arbeitsfähigkeit schlagen, desto angreifbarer werden pauschale MD-Formeln.
Sofort-Protokoll: Was nach dem Schreiben der Krankenkasse als Nächstes zählt
Sobald ein Schreiben kommt, das auf eine Beendigung oder Einschränkung des Krankengeldes hinausläuft, sollten Betroffene nicht abwarten. Zuerst wird der Zugang dokumentiert (Datum des tatsächlichen Erhalts notieren, Umschlag aufbewahren).
Dann muss die Arbeitsunfähigkeit lückenlos gesichert werden: durchgehend ärztliche AU-Feststellungen ohne Unterbrechung sind in der Praxis ein häufiger „K.o.-Punkt“, unabhängig davon, was der MD schreibt. Parallel sollte fristwahrend schriftlich Widerspruch eingelegt werden – kurz und ohne lange Begründung.
Die Begründung kann nach Akteneinsicht und nach Einholung aktueller fachärztlicher Stellungnahmen nachgereicht werden.
Zur Frist: In der Regel gilt eine Monatsfrist ab Bekanntgabe des Bescheids. Bei Postversand wird häufig mit einer Zugangsfiktion gearbeitet. Wer späteren Zugang geltend macht, sollte das nachvollziehbar dokumentieren (z. B. verspätete Zustellung, Abwesenheit, Zeugen, Umschlag).
Entscheidend ist: Fristen werden nicht „ausdiskutiert“, sondern vorsorglich eingehalten.
Akteneinsicht: Ohne Unterlagen keine treffsichere Gegenwehr
Eine wirksame Auseinandersetzung beginnt fast immer mit Akteneinsicht. Betroffene können die vollständigen Unterlagen anfordern, insbesondere das MD-Gutachten bzw. die sozialmedizinische Stellungnahme, die Liste der Unterlagen, die dem MD vorlagen, sowie die Begründung, auf welche Befunde sich die Krankenkasse stützt.
Erst dann lässt sich prüfen, ob der MD auf veraltete Berichte zurückgreift, ob aktuelle Diagnostik fehlt, ob wesentliche Facharztunterlagen nicht berücksichtigt wurden oder ob die Schlussfolgerungen nicht zu den dokumentierten Einschränkungen passen.
Typische MD-Formeln – und wie man sie fachlich entkräftet
„Arbeitsfähig für leichte Tätigkeiten“ ist oft der Klassiker. Das Problem: Diese Aussage ist häufig zu abstrakt. Arbeitsunfähigkeit wird regelmäßig in Bezug auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bewertet. Ein Gegenansatz funktioniert am besten, wenn behandelnde Ärzte nicht „widersprechen“, sondern konkretisieren:
Welche Belastungen sind nicht möglich (Sitzen/Stehen/Gehen, Heben/Tragen, Konzentration, Stress, soziale Interaktion, Wegstrecken, Schlaf, Angst/Panik, Schmerzspitzen, Erholungszeiten)? Welche Folgen treten nach Belastung auf? Und warum sind diese Einschränkungen mit den Arbeitsplatzanforderungen unvereinbar?
„Keine objektiven Befunde“ lässt sich entkräften, wenn die Stellungnahme nicht auf Bildgebung fixiert ist, sondern auf Funktions- und Belastungsdiagnostik. Viele relevante Einschränkungen sind nicht „fotografierbar“, aber medizinisch nachvollziehbar beschreibbar – gerade bei psychischen Erkrankungen oder funktionellen Syndromen.
Hier sind standardisierte Tests, Verlaufsberichte, Therapiedokumentation und konkrete Alltagsbeispiele oft stärker als jede einzelne Untersuchung.
„Zustand gebessert“ wirkt nur dann, wenn die Besserung stabil ist. Bei schwankenden Verläufen ist die entscheidende Frage, ob die Schwankungen innerhalb einer verlässlichen Arbeitsfähigkeit liegen.
Rückfälle, Überlastungsreaktionen, Therapieanpassungen oder wiederkehrende Einbrüche sollten als Verlauf mit Daten dokumentiert werden, statt als „Gefühl“.
„Therapie möglich, daher arbeitsfähig“ ist eine logische Abkürzung, die häufig nicht trägt. Behandelbarkeit bedeutet nicht automatisch aktuelle Belastbarkeit. Hier hilft eine klare ärztliche Aussage:
Was ist trotz Therapie aktuell nicht leistbar, wie ist der zeitliche Horizont, und welche Reha-/Stabilisierungsphasen sind erforderlich?
„Untersuchung nicht erforderlich“ ist nicht automatisch ein Rechtsfehler, aber ein typischer Hebel: Je individueller und komplexer die Einschränkungen sind, desto wichtiger ist der Hinweis, dass eine reine Aktenbewertung zentrale Aspekte nicht abbildet.
Dann sollte die Gegenargumentation nicht moralisch, sondern fachlich sein: Welche entscheidenden Punkte konnten ohne Untersuchung nicht erhoben werden?
Zwei Praxisfälle, die die Logik zeigen
Marianne wurde bei schwerer Depression nach Aktenlage für arbeitsfähig erklärt. Entscheidend war nicht der Satz „MD liegt falsch“, sondern eine präzise fachärztliche Stellungnahme: konkrete Einschränkungen (Konzentration, Antrieb, Belastung unter Stress, Interaktion), Tagesformschwankungen, Therapieverlauf und die Arbeitsplatzanforderungen. Mit dieser Funktionslogik kippte die Abstraktion der MD-Formel.
Kay hatte zunächst körperliche Beschwerden, später kamen Angst- und Belastungssymptome hinzu. Der MD bewertete nur die körperliche Diagnose.
Der Durchbruch kam durch die Ergänzung der Komorbidität: nicht „auch psychisch“, sondern medizinisch begründet, wie sich beides gegenseitig verstärkt und warum damit die Arbeitsfähigkeit insgesamt nicht gegeben ist.
Was passiert mit dem Krankengeld während des Widerspruchs?
Ein Widerspruch schützt nicht automatisch vor einem Zahlungsstopp. Manche Krankenkassen zahlen weiter, andere stellen ein und prüfen erneut. Darauf sollten Betroffene vorbereitet sein:
Wenn die Existenzsicherung gefährdet ist und das Krankengeld wegfällt, kommt oft ein Eilverfahren beim Sozialgericht in Betracht, damit vorläufig weitergezahlt wird, bis die Sache geklärt ist.
Dafür sind in der Praxis besonders wichtig: aktueller AU-Status, der Bescheid der Krankenkasse, zentrale aktuelle Befunde/Stellungnahmen und eine kurze Darstellung der finanziellen Notlage.
Wann ein Vorgehen wenig Aussicht hat
Ein Widerspruch wird schwierig, wenn behandelnde Ärzte die Arbeitsunfähigkeit nicht mehr bestätigen oder keine belastbaren aktuellen Unterlagen vorhanden sind.
Auch wenn die Frist versäumt wurde, wird es deutlich komplizierter – dann kommen nur Ausnahmen in Betracht (etwa bei unverschuldeter Fristversäumnis oder in engen Korrekturwegen). Das ändert aber nichts an der Grundregel: Wer rechtzeitig reagiert, hat die besseren Karten.
Kurzvorlagen, die Betroffene sofort nutzen können
Fristwahrender Widerspruch (kurz):
„Hiermit lege ich gegen Ihren Bescheid vom [Datum] (zugegangen am [Datum]) Widerspruch ein. Ich bin weiterhin arbeitsunfähig. Eine Begründung reiche ich nach Akteneinsicht und Vorlage aktueller ärztlicher Unterlagen nach.“
Akteneinsicht / Unterlagenanforderung:
„Bitte übersenden Sie mir die vollständige Leistungsakte, insbesondere das vollständige MD-Gutachten/ die sozialmedizinische Stellungnahme sowie die Unterlagenliste, die dem MD vorgelegen hat. Bitte teilen Sie außerdem mit, auf welche konkreten Befunde und Erwägungen Sie die Entscheidung stützen.“
Fazit: MD-Gutachten sind nicht das letzte Wort
Ein MD-Gutachten ist eine Einschätzung – der entscheidende Angriffspunkt ist der Bescheid der Krankenkasse und die Begründung dahinter.
Wer Zugang und Fristen dokumentiert, die AU lückenlos absichert, fristwahrend widerspricht, Akteneinsicht nutzt und dann nicht Diagnosen, sondern funktionelle Einschränkungen mit Arbeitsplatzbezug belegt, kann eine Krankengeld-Entscheidung in vielen Fällen wirksam zu Fall bringen oder zumindest zur erneuten, sorgfältigeren Prüfung zwingen.




