Ist Hartz IV: Rechtlos im Rechtsstaat?

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"Dass Ihr Grundrechte habt, ist ein Privileg, das Ihr nicht als selbstverständlich hinnehmen dürft. Es könnte eine Zeit kommen, wo Ihr darum kämpfen müsst!" Ein Kommentar von Natalie Hanke

So mahnte Anfang der 90er Jahre mein damaliger Deutsch- und Geschichtslehrer. Damals glaubten wir ihm nicht so recht, und Hartz IV war noch lange nicht in Sicht. Heute weiß ich, wie recht er hatte. Mitten in unserem demokratischen Rechtsstaat wird zu einer subtilen und gerade deshalb äußerst wirkungsvollen Hatz gegen eine Bevölkerungsgruppe geblasen, deren einziges "Verbrechen" darin besteht, nicht erwerbstätig zu sein. Niemand von ihnen hat sich das freiwillig ausgesucht.

Seit es Hartz IV gibt, kann wohl niemand mehr frohen Mutes von der sozialen Hängematte schwadronieren, in die sich der Arbeitslose nur allzu bereitwillig hineinlegt und zur süßen Ruhe bettet. Was schon früher kein Daunenbett war – auch wenn Stammtischparolen das Gegenteil verkünden -, ist heute mit Dornen und Stacheldraht gespickt, so dass nur ein ausgemachter Masochist freiwillig das Los eines Alg-II-Empfängers wählen würde.

Dies erfüllt vor allem den Zweck, dass die Glücklichen, die noch einen Arbeitsplatz ihr Eigen nennen dürfen, klaglos und duckmäuserisch jede Schikane ihres Brötchengebers ertragen, weil sie panische Angst haben, in die Hartz-IV-Mühle zu geraten. Die anderen, die bereits in dieser Mühle stecken, werden systematisch ihrer gesetzlich garantierten Grundrechte beraubt, erpresst und fortlaufend gedemütigt, so als seien sie noch nicht weit genug unten. Nachtreten macht Freude! Als Gegenleistung für das zweifelhafte Vergnügen, von "Vater" Staat, der sich längst in der Rolle des prügelnden Stiefvaters gefällt, mit einem Betrag abgespeist zu werden, der zum Leben (in Würde) zu wenig, zum Sterben aber zuviel ist, sollen sie sich in Ein-Euro-Jobs ausbeuten lassen.

Dass dabei vollbezahlte, reguläre Arbeitsplätze vernichtet werden, kümmert unsere Politiker nicht. Die hauen ein Gesetz zur Verschärfung von Hartz IV innerhalb weniger Tage durch die Gremien, wenn’s pressiert, weigern sich aber, eigene Nebeneinkünfte offenzulegen. Und ein Hartzer? Der wird standardmäßig durchleuchtet, viermal pro Jahr routinemäßige Überprüfung zum Datenabgleich. So will es das SGB II. Von Datenschutz keine Spur, auf den hat in Deutschland eher ein verurteilter Kinderschänder Anspruch. Und die Deutschen? Wie lange werden sie noch stillhalten? Wahrscheinlich noch sehr lange. Denn der Deutsche ist seit jeher obrigkeitsgläubig und hat den Spruch "Ja, wenns doch Gesetz ist…" auf den Lippen. Als gebe es nicht die moralische Verpflichtung eines jeden Demokraten, gegen ein Gesetz anzurennen, das in sich zutiefst unmoralisch ist. Und solange dieses Denken, das auch das Dritte Reich und die DDR erst möglich machte, fortdauert, wird auch das Unrecht weitergehen.

Der Hungertote von Speyer war der Erste – er wird nicht der Letzte sein. An seinem Schicksal zeigt sich die grausamste Konsequenz der von Müntefering propagierten Binsenweisheit: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen." Unser Grundgesetz spricht eine andere Sprache. Es garantiert eine Grundversorgung, die nicht an irgendwelche willkürlich festgelegten Voraussetzungen (wie z.B. die Arbeitsleistung) gekoppelt sein darf. Und es ist ein Skandal, dass jene, die durch die immer weiter werdenden Maschen des sich allmählich auflösenden sozialen Netzes fallen, in einem reichen Land wie Deutschland buchstäblich ausgehungert werden sollen.

Liebe Politiker und Wirtschaftsbosse, schafft Arbeitsplätze, und ermöglicht es einem arbeitenden Menschen, sich und die Seinen aus eigener Kraft zu ernähren! Dann brauchen wir auch nicht mehr über eine Kürzung oder Aufstockung der "Grundsicherung für Arbeitslose" zu diskutieren. Es muss möglich sein, von seiner Hände Arbeit nicht nur zu vegetieren, sondern zu leben. Herr Studienrat W., sollten Sie diese Zeilen lesen, so wissen Sie, dass ich bei Ihnen für mein Leben gelernt habe. Die Zeit, da wir, die Arbeitslosen, um unsere Grundrechte kämpfen müssen, ist schon lange da. Lasst uns also aufstehen, bevor wir in einer Demokratie einschlafen und in einer Diktatur aufwachen. Es ist allerhöchste Zeit! (15.06.07, Natalie Hanke)