Hartz IV und Sanktionen: Vom Sinn und Unsinn angeblich erzieherischer Mittel

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Sanktionen im SGB II – Vom Sinn und Unsinn erzieherischer Mittel – Meinung

Am kommendem Dienstag ist es soweit: 14 Jahre nach der Einfรผhrung von Hartz IV findet vor dem Bundesverfassungsgericht eine mรผndliche Verhandlung in Sachen “Sanktionen im SGB II” statt. Nun wird sich der “Geist” hinter Hartz IV zeigen und es wird sich offenbaren, ob Deutschland (noch) ein Sozialstaat ist, in dem die Wรผrde des Menschen unantastbar ist, oder ob die staatsbรผrgerlichen und Menschrechte davon abhรคngen, ob und wie viel Profit ein Mensch auf dem deutschen Arbeitsmarkt bringt.

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Sinn und Unsinn der Hartz IV Sanktionen

Hartz IV hat Menschen neu definiert

Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden am 01.01.2005 durch das vierte Gesetz fรผr moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, besser bekannt als “Hartz IV”, Arbeitswillige und Arbeitsunwillige (Letztere wurden bis dahin von den Sozialรคmtern betreut) in einen Topf geworfen.

Das war durchaus politisch gewollt, denn so konnte man eine ganze Bevรถlkerungsgruppe anhand einer kleinen Minderheit neu definieren: als arbeitsscheue Sozialschmarotzer, die es sich in der (vermeintlichen) sozialen Hรคngematte (zu) bequem gemacht hatten. Nur so lieรŸen sich die mit Hartz IV einhergehenden erheblichen Leistungseinschnitte und der Verlust von Rechten รถffentlich begrรผnden. Aber ist das die Wahrheit?

Sicher gibt es nun im Bereich des SGB II auch Personen, die bewusst eine Erwerbstรคtigkeit ablehnen, aber dabei handelt es sich lt. Statistiken der Bundesagentur fรผr Arbeit (BA) um eine verschwindend geringe Zahl. Das Absurde dabei: diese Arbeitsunwilligen kann man gar nicht durch Sanktionen motivieren, eine Erwerbstรคtigkeit anzunehmen, was die Erfahrungen aus Zeiten des BSHG hinreichend zeigen.

Arbeitswillige hingegen werden in ihren Bemรผhungen durch Sanktionen nachhaltig ausgebremst, landen in der sog. Schuldenfalle und werden nachhaltig persรถnlich herabgewรผrdigt und erniedrigt. Sie fรผhlen sich als AusgestoรŸene eines Systems, das keinen Platz mehr fรผr sie hat.

Die Mehrheit der Sanktionen ist laut Statistik der BA nicht Folge einer Weigerung, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, sondern Folge von Meldeversรคumnissen und VerstรถรŸen gegen – oft genug rechtswidrige – Eingliederungsvereinbarungen. Also die direkte Folge von Kontrollwahn und Gรคngelei durch Jobcenter. รœbrigens etwas, das durch sog. Zielvereinbarungen von der BA vorgeschrieben wird, in denen u.a. die sog. Betreuungsdichte, Vermittlungs- und Sanktionsquoten vorgegeben werden.

Verfolgungsbetreuung statt Hilfe

Statt Rรผcksicht auf persรถnliche Probleme und Verpflichtungen von Betroffenen zu nehmen, wird im Zuge dieser propagierten Verfolgungsbetreuung eingeladen was das Zeug hรคlt. Und vollkommen realitรคtsfern werden in sog. Eingliederungsvereinbarungen Pflichtbewerbungen verlangt, die mangels individuell geeigneter und zumutbarer Arbeitsplรคtze oft genug nicht erfรผllt werden kรถnnen.

Diese entmenschlichte Bรผrokratisierung des Systems Hartz IV geht sogar so weit, dass die Bundesregierung in ihrem Haushalt die Einsparungen durch Sanktionen mit einberechnet.

Lt. einer Erhebung des Robert-Koch Institutes (RKI) von 2013 haben ALG II Empfรคnger eine um 10 Jahre geringere Lebenserwartung. Ursรคchlich ist dafรผr lt. RKI hautsรคchlich der Hartz IV Regelsatz, mit dem Betroffene kaum Chancen auf eine ausgewogene und vollwertige Ernรคhrung haben. Aber auch der psychische Leidensdruck lรคsst Betroffene schneller altern. Der Prรคsident der Bundesรคrztekammer, Montgomery, hat das als “Schande fรผr Deutschland” bezeichnet.

Fakt ist: Nicht die Arbeitslosigkeit selbst, sondern der Zwang durch Sanktionen und ein Leben in stรคndiger Angst davor wirken sich nachhaltig negativ auf die Gesundheit Betroffener aus, denn dieser Zwang ist reiner Psychoterror. Sie treibt Menschen in prekรคre, ja sogar rechtswidrige Arbeitsverhรคltnisse und dazu, das eigene Wohl zu ignorieren und sich regelrecht krank zu arbeiten.

Sanktionen bewirken also tatsรคchlich eine messbare Verschlechterung der Erwerbsfรคhigkeit und damit das Gegenteil von dem, wofรผr sie angeblich da sind.

Fakt ist auch: Trotz angeblich seit Jahren positiver Entwicklung des Arbeitsmarktes sinkt die Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht. Auch daran รคndern Sanktionen nichts, den die Ursache liegt an anderer Stelle. Hier muss endlich ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft und allen voran bei den verantwortlichen Politikern stattfinden.

In einer Gesellschaft, in der es nicht mehr fรผr alle genรผgend und ausreichend bezahlte Arbeit gibt, ist es sozial unverantwortlich, Menschen ausschlieรŸlich รผber die von ihnen ausgeรผbte bezahlte Erwerbstรคtigkeit und deren Entlohnungshรถhe zu definieren. Man kann auch ohne Lohnarbeit einer sinnvollen Aufgabe nachgehen, aus der man Respekt und Selbstbestรคtigung bekommt. Aber das geht nur, wenn man sich vom Feindbild “Sozialschmarotzer” lรถst und Betroffene endlich mit dem ihnen zustehenden Respekt behandelt. Und hier sind zuallererst die verantwortlichen Politiker in der Pflicht, ein Zeichen zu setzen.

Sanktionen dรผrfen Existenzminimum nicht gefรคhrden

Sofern man im SGB II erzieherische Mittel als unverzichtbar ansieht und derzeit nicht in der Lage ist, klรผgere und menschlichere Lรถsungen zu finden, dann mรผssen Sanktionen zwingend so ausgestaltet sein, dass das mit der Regelleistung des SGB II definierte Existenzminimum nicht gefรคhrdet wird (Sozialstaatsgebot, Art. 20, 28 GG) und diese nicht entwรผrdigend wirken (“Die Wรผrde des Menschen ist unantastbar.”, Art. 1 Nr. 1 GG). Die derzeitigen Sanktionsregelungen im SGB II erfรผllen diese Kriterien nachweislich nicht.

Oder ist der Sozialstaat schon so abgestumpft und geschrumpft, dass er seine Bรผrger nur noch als Fleischwaren ansieht, von denen Arbeitslose nur noch von geringer Qualitรคt sind und deshalb bald “weg” mรผssen und verramscht werden? (Ottokar, hartz.info)