Erwerbsminderung ja, aber keine EM-Rente: Wer jetzt zahlt

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Wer nur noch weniger als drei Stunden tรคglich arbeiten kann, gilt im sozialrechtlichen Sinne als erwerbsgemindert. Eigentlich klingt das nach einem klaren Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente.

Doch die Praxis zeigt: Ist der medizinische Befund eindeutig, scheitert der Rentenanspruch nicht selten an den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Das Ergebnis ist eine Versorgungslรผcke mit gravierenden Folgen. Dieser Beitrag ordnet die Lage, erklรคrt die Rechtslogik hinter der Entscheidung und zeigt, welche Wege dennoch offenstehen.

Feststellung ist nicht gleich Rentenanspruch

Das Gutachten der Deutschen Rentenversicherung ist der erste entscheidende Baustein. Bestรคtigen die Gutachterinnen und Gutachter, dass eine Beschรคftigung in irgendeiner Tรคtigkeit auf absehbare Zeit nur noch unter drei Stunden tรคglich mรถglich ist, sind die medizinischen Voraussetzungen fรผr eine volle Erwerbsminderung erfรผllt.

Damit ist jedoch noch nicht entschieden, dass auch eine Rente flieรŸt. Das Rentenrecht verlangt zusรคtzlich eine bestimmte Versicherungsvorleistung โ€“ und genau daran scheitern Antrรคge in der Praxis immer wieder.

Die โ€ž5โ€“5โ€“3-Regelโ€œ bei der Erwerbsminderungsrente

Hinter dem trockenen Begriff der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen steht die sogenannte โ€ž5โ€“5โ€“3-Regelโ€œ. Sie ist schnell erzรคhlt, hat aber enorme Wirkung: Erstens muss die allgemeine Wartezeit von fรผnf Jahren in der gesetzlichen Rentenversicherung erfรผllt sein.

Zweitens mรผssen innerhalb der letzten fรผnf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre mit Pflichtbeitrรคgen liegen.

Diese Pflichtbeitrรคge entstehen typischerweise durch sozialversicherungspflichtige Beschรคftigung; auch Zeiten mit Krankengeld flieรŸen in der Regel mit ein.

Wer also unmittelbar vor der Erkrankung gearbeitet hat und dann ins Krankengeld gewechselt ist, erfรผllt die Vorgaben hรคufig automatisch. Bricht der Versicherungsverlauf jedoch ab, fehlen Beschรคftigungszeiten oder wurde nur unregelmรครŸig eingezahlt, bleibt die โ€ž5โ€“5โ€“3โ€œ-Hรผrde unter Umstรคnden ungerissen โ€“ mit der Folge, dass trotz bestรคtigter Erwerbsminderung keine Rente bewilligt wird.

Wenn der Anspruch scheitert: Warum Krankengeld und Arbeitslosengeld nicht greifen

Besonders bitter wird es, wenn die medizinische Erwerbsminderung festgestellt ist, aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen fehlen. Dann endet in der Regel der Anspruch auf Krankengeld. Das hat System: Krankenkassen drรคngen Beziehende von Krankengeld hรคufig in eine RehabilitationsmaรŸnahme oder Begutachtung, um die Erwerbsfรคhigkeit prรผfen zu lassen.

Wird dort eine Erwerbsminderung bestรคtigt, sieht sich die Kasse grundsรคtzlich nicht mehr in der Pflicht โ€“ selbst dann, wenn aus rentenrechtlichen Grรผnden keine Zahlung folgt.

Auch das Arbeitslosengeld ist in dieser Konstellation keine Auffanglรถsung. Arbeitslosengeld I ist eine Versicherungsleistung fรผr Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfรผgung stehen. Bei festgestellter Erwerbsminderung ist genau das nicht der Fall. Arbeitslosengeld II beziehungsweise die Leistungen des Grundsicherungssystems fรผr Erwerbsfรคhige sind ebenso nicht passend, weil die Voraussetzung โ€žerwerbsfรคhigโ€œ dort begrifflich vorausgesetzt wird. Das Ergebnis ist eine Lรผcke, die Betroffene unvorbereitet trifft.

Letztes Netz: Grundsicherung bei Erwerbsminderung

Bleiben Krankengeld und Arbeitslosengeld verschlossen, fรผhrt der Weg in der geschilderten Situation regelmรครŸig zum Amt fรผr Grundsicherung. Die Grundsicherung bei Erwerbsminderung ist das sozialrechtliche Mindestsicherungsnetz fรผr dauerhaft gesundheitlich nicht leistungsfรคhige Menschen.

Sie orientiert sich am Niveau der existenzsichernden Leistungen und deckt den Regelbedarf sowie die angemessenen Kosten fรผr Unterkunft und Heizung ab. Allerdings ist die Leistung streng bedarfsabhรคngig. Vor der Bewilligung prรผft die Behรถrde Einkommen und Vermรถgen. Fรผr Alleinstehende gilt ein begrenztes Schonvermรถgen; liegt verwertbares Vermรถgen oberhalb dieser Grenze, kann der Antrag abgelehnt werden. Grundsicherung bedeutet damit realistisch ein Leben auf dem Niveau der Sicherungssysteme โ€“ nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Warum eine zweite Sicht auf den Versicherungsverlauf so wichtig ist

So hart die ablehnende Entscheidung wirkt: In der Praxis lohnt sich fast immer ein zweiter Blick in den Versicherungsverlauf. Kleinere Unstimmigkeiten kรถnnen groรŸe Wirkung entfalten.

Hรคufig fehlen einzelne Pflichtbeitragsmonate, etwa weil Beschรคftigungszeiten nicht korrekt gemeldet, Krankengeldzeitrรคume nicht angerechnet oder รœbergรคnge zwischen Beschรคftigung, Krankheit und eventueller Reha unvollstรคndig dokumentiert wurden.

Auch Ausbildungs- und andere berรผcksichtigungsfรคhige Zeiten kรถnnen Spuren im Rentenkonto hinterlassen, die in Summe den Ausschlag geben. Eine qualifizierte, persรถnliche Beratung โ€“ etwa bei einem Sozialverband โ€“ hilft, Lรผcken zu identifizieren, Nachweise nachzureichen und gegebenenfalls Widerspruch fundiert zu begrรผnden. Der Aufwand ist hoch, doch die Chance, dadurch doch noch einen Leistungsanspruch zu erรถffnen, ist real.

Reha, Rente, Rechtsschutz: Die Logik hinter der Verweisung

Dass Krankenkassen Versicherte in die Reha verweisen, hat eine klare Funktion: RehabilitationsmaรŸnahmen sollen vorrangig vor Rentenleistungen stehen und prรผfen, ob und in welchem Umfang Erwerbsfรคhigkeit wiederhergestellt werden kann. Ergibt die Prรผfung eine Erwerbsminderung, verschiebt sich die Zustรคndigkeit grundsรคtzlich zur Rentenversicherung.

Fehlt dort jedoch die versicherungsrechtliche Basis, entsteht das Dilemma. Fรผr Betroffene ist wichtig zu wissen, dass diese Logik kein Versehen, sondern Teil des gegliederten Systems ist. Umso entscheidender ist es, die eigene Versicherungsbiografie vollstรคndig und sauber zu dokumentieren und die Kommunikation zwischen Krankenkasse, Rentenversicherung und gegebenenfalls dem Grundsicherungsamt aktiv zu begleiten.

Grundsicherung ist nicht Grundrente

Immer wieder kommt es zu Missverstรคndnissen zwischen den Begriffen โ€žGrundsicherungโ€œ und โ€žGrundrenteโ€œ. Beide Leistungen teilen einen รคhnlichen Klang, verfolgen jedoch unterschiedliche Ziele. Grundsicherung ist eine bedarfsgeprรผfte Sozialleistung zur Sicherung des Existenzminimums bei fehlender Erwerbsfรคhigkeit.

Die Grundrente hingegen ist ein rentenrechtlicher Zuschlag fรผr langjรคhrig Versicherte mit niedrigen Einkommen und knรผpft an zurรผckgelegte Pflichtbeitragszeiten an. Wer Grundsicherung bezieht, erhรคlt damit nicht automatisch eine Grundrente โ€“ und umgekehrt. Fรผr die individuelle Planung ist diese Unterscheidung wichtig.

Praxisfall: Erwerbsgemindert, aber ohne Rentenzahlung

Frau K., 47, lebt in Lรผbeck und arbeitete bis Mรคrz 2020 als Verkรคuferin in Vollzeit. Wegen der Pandemie wechselte sie ab April 2020 in einen Minijob und lieรŸ sich von der Rentenversicherungspflicht befreien.

Von Januar 2023 bis Frรผhjahr 2024 machte sie sich mit einem kleinen Reinigungsservice selbststรคndig, ohne rentenversicherungspflichtig zu sein. Im Mai 2024 erkrankte sie schwer; an regelmรครŸige Arbeit war nicht mehr zu denken.

Begutachtung und Bescheid

Im Juli 2024 stellte Frau K. einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Das Gutachten der Deutschen Rentenversicherung kam im September 2024 zu dem Ergebnis, dass sie auf absehbare Zeit weniger als drei Stunden tรคglich in jedem Beruf arbeiten kann.

Laut Gutachten lag damit volle Erwerbsminderung vor. Im November 2024 folgte dennoch der ablehnende Rentenbescheid: Innerhalb der letzten fรผnf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung waren nicht die erforderlichen 36 Monate mit Pflichtbeitrรคgen vorhanden. Die Monate aus dem befreiten Minijob und der kleinen Selbststรคndigkeit zรคhlten hierfรผr nicht.

Konsequenzen im Leistungssystem

Krankengeld erhielt Frau K. nicht, weil unmittelbar vor der Erkrankung keine versicherungspflichtige Beschรคftigung bestand. Arbeitslosengeld I schied aus, da sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfรผgung steht; das Jobcenter verwies wegen der festgestellten Erwerbsminderung an den Trรคger der Grundsicherung.

Im Januar 2025 bewilligte das Sozialamt Grundsicherung nach SGB XII fรผr den Regelbedarf sowie die angemessenen Kosten der Unterkunft. Vermรถgen oberhalb der zulรคssigen Grenze lag nicht vor.

Nachsteuerung durch Beratung

Im Beratungstermin bei einem Sozialverband wie dem SoVD oder Paritรคtischem wurde der Versicherungsverlauf akribisch geprรผft. Es lieรŸen sich keine zusรคtzlichen Pflichtbeitragszeiten nachweisen, die die 36-Monats-Hรผrde noch hรคtten erreichen lassen.

Vereinbart wurde, den Gesundheitsverlauf und mรถgliche Rehabilitationsoptionen zu dokumentieren und bei Bedarf spรคter erneut zu beantragen.

Bis dahin bleibt die Grundsicherung das tragende Netz, flankiert von sozialrechtlicher Begleitung, um Fristen zu wahren und etwaige ร„nderungen im Rentenkonto zeitnah nachzumelden.

Fazit: Versorgungslรผcke ernst nehmen, Optionen ausschรถpfen

Die Konstellation โ€žerwerbsgemindert ohne Renteโ€œ ist mehr als ein Sonderfall, sie ist ein systemischer Fallstrick. Medizinisch ist alles klar, rechtlich fehlt die Beitragsbasis. Wer sich darin wiederfindet, sollte schnell handeln und die eigene Aktenlage รผberprรผfen lassen. Jede korrekt nachgewiesene Pflichtbeitragszeit kann den Ausschlag geben.

Bis dahin bleibt die Grundsicherung das letzte Netz, auch wenn sie auch nur das Minimum garantiert.