Die Bundesregierung will das Bürgergeld kippen und durch eine „neue Grundsicherung“ ersetzen. Mehr Pflichten, schnellere Vermittlung, deutlich schärfere Sanktionen – so lautet das Versprechen. In der Praxis bedeutet das: Wer nicht spurt, spürt es im Portemonnaie. Und zwar empfindlich.
Zwischen Ankündigung und Wirklichkeit klafft dennoch eine gefährliche Lücke. Offiziell heißt es, man gehe „bis an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen“ vor und wolle Härtefälle berücksichtigen. Aber genau diese Grenze verläuft für Menschen mit psychischen Krankheiten, Suchterkrankungen oder schweren gesundheitlichen Einschränkungen oft mitten durchs eigene Leben.
Wer mit Angststörung, Depression oder im Entzug den Überblick verliert, landet unter der neuen Logik besonders schnell im Sanktionskarussell.
Inhaltsverzeichnis
Was sich konkret ändert
Die Jobcenter laden künftig sofort nach Antragstellung zu einem verpflichtenden Erstgespräch, gefolgt von einem Kooperationsplan. Wer Termine versäumt oder Pflichten verletzt, wird schneller und härter sanktioniert.
Bei der Vermögensanrechnung und den Wohnkosten fallen Karenzzeiten weg, das Schonvermögen wird an die „Lebensleistung“ gekoppelt. Vermittlung in Arbeit soll grundsätzlich Vorrang haben – Qualifizierung nur, wenn sie nachweislich schneller zum Ziel führt.
Der entscheidende Dreh liegt aber in den Sanktionsstufen. Die Regierung verkauft das als klare, transparente Linie. In Wahrheit ist es eine Eskalationslogik, die Menschen mit ohnehin brüchiger Stabilität weiter ins Wanken bringt.
Sanktionen – die neue Eskalationsleiter
Stufe | Konsequenz |
1. versäumter Termin | Erneute Einladung und klare Rechtsfolgenbelehrung. |
2. versäumter Termin | 30 % Kürzung des Regelbedarfs. |
3. versäumter Termin | Vollständige Einstellung der Geldleistungen (Regelbedarf ausgesetzt). |
„Plus eins“ (auch Folgemonat kein Erscheinen) | Komplette Zahlungseinstellung einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung. |
Bei einer Arbeitsverweigerung droht ebenfalls die Streichung der Geldleistungen. Die Kosten der Unterkunft sollen in diesem Szenario direkt an den Vermieter fließen – eine scheinbar soziale Schutzschranke, die in der Praxis oft zu spät greift, wenn Betroffene bereits in existenzieller Not stecken.
Verfassungsrecht „am Limit“
Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 unmissverständlich klargemacht: Sanktionen sind nicht grenzenlos. Kürzungen über 30 % sind nur unter sehr engen Voraussetzungen haltbar, Totalsanktionen müssen streng begründet und jederzeit reversibel sein.
Genau hier liegt der wunde Punkt der „neuen Grundsicherung“. Ein Automatismus „drei plus eins – und alles ist weg“ mag im Papier logisch klingen. Im echten Leben trifft er aber häufig Menschen, die gerade nicht „nicht wollen“, sondern nicht können.
Härtefall-Klausel? Klingt gut, scheitert oft im Alltag
Die Ministerin verspricht, psychisch Erkrankte und gesundheitlich Eingeschränkte nicht „die Falschen“ treffen zu lassen. Schön wär’s. Die Realität in den Jobcentern ist: zu wenig Zeit, zu viele Fälle, zu wenig Fachwissen im Umgang mit komplexen Krankheitsbildern.
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Bescheid prüfenWer eine Panikattacke hat, sagt keinen Termin ab. Wer in einer depressiven Episode steckt, schafft den Anruf nicht. Wer im Rückfall trinkt, hält keine Frist ein. Die Härtefallklausel scheitert dann an der Beweislast und am Tempo der Verwaltung.
Praxisrisiko: Strafen, die mitten ins Krankheitsbild greifen
Genau hier wird die Reform lebensfremd. Sie misst psychisch Erkrankte am Maßstab psychisch Gesunder. Wer „dreimal plus eins“ nicht da ist, verliert am Ende sogar Miete und Heizung. Das ist nicht nur unsozial – es ist riskant.
Denn wer in der Krise das Existenzminimum verliert, rutscht tiefer: Schulden, Wohnungsverlust, Beziehungsbrüche. Und ja: Bei entsprechender Konstellation kann dieser Druck zur akuten Gefährdung führen.
Familien sollen „geschont“ werden – aber die Lücke bleibt
Angekündigt ist, Kinder nicht in Mithaftung zu nehmen. Das ist richtig und notwendig. Trotzdem: Wenn der Leistungsberechtigte selbst ins Nichts fällt, reißt das oft die Familie mit hinein – emotional, organisatorisch, finanziell.
Eine Direktzahlung der Miete schützt vor der Räumung, löst aber weder das Problem leerer Kühlschränke noch die Dynamik, die Sanktionen in instabilen Haushalten auslösen.
Viel Druck, wenig Hilfe – das wird teuer
Die „neue Grundsicherung“ setzt massiv auf Druck. Ob sie Menschen schneller in gute Arbeit bringt, bleibt offen. Sicher ist nur: Wer ohnehin mit psychischer Erkrankung, Suchterkrankung oder chronischer Krankheit kämpft, gerät schneller unter die Räder.
Was kurzfristig nach „Härte“ aussieht, produziert mittel- und langfristig Folgekosten – von Gesundheitsausgaben bis Wohnungsverlust. Sozialstaat heißt, Menschen raus aus Notlagen zu führen, nicht sie hineinzudrücken.
Die Bundesregierung steht jetzt vor einer Grundsatzentscheidung: Hält sie bei der Ausgestaltung Wort und baut echte Schutzgeländer ein – niedrigschwellig, unbürokratisch, mit qualifiziertem Personal?
Oder bleibt es bei einem Sanktionsautomatismus, der das Papier ruhigstellt und Menschen in der Realität alleinlässt? Wer es ernst meint mit „Fördern und Fordern“, muss beim Fördern anfangen.