Bürgergeld Totalverweigerer – Unwort des Jahres 2024

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Das Wort „biodeutsch“ wurde zum Unwort des Jahres 2024 gewählt. Mit dieser Negativ-Auszeichnung versieht das Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg jährlich sprachliche Entgleisungen, die Menschen herabwürdigen.

“Gegen-Hartz” hält allerdings den Begriff „Totalverweigerer“ für das Unwort des letzten Jahres.

Diskriminierender Sprachgebrauch

Die Jury sieht „biodeutsch“ als Unwort im „nicht den ironisch-satirischen, sondern den diskriminierenden Wortgebrauch, weil er gegen die Idee von demokratischer Gleichheit und Inklusion verstößt.“ Diese Begründung gilt auch für das Wort „Totalverweigerer“, und zwar in hohem Maße und in vielfacher Hinsicht.

Totalverweigerer als politischer Kampfbegriff

Der vermeintliche “Totalverweigerer”, wurde besonders von AfD, CDU / CSU und FDP verbreitet, um Stimmungen im Land zu lenken und von realen Problemen abzulenken. SPD und Grüne schlossen sich diesem Weg 2024, mit dem Plan, Sanktionen zu verschärfen, an.

Frontalangriff auf Hilfebedürftige

Die Jagd auf angebliche „Totalverweigerer“ dient als trojanisches Pferd, um Sozialleistungen unter das Existenzminimum zu drücken, und mit Fantasiezahlen über vermeintliche „Arbeitsverweigerer“ lassen sich die behaupteten „Totalverweigerer“ so ausdehnen, dass damit, je nach Interesse, jeder und jede Hilfebedürftige denunziert werden kann, der oder die von Bürgergeld abhängig ist.

Trick, um die Verfassung zu brechen

Der „autonom handelnde Totalverweigerer“ ist zudem ein Konstrukt, um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts so zu verzerren, dass es einen vollständigen Entzug der Lebensgrundlagen für die Betroffenen ermöglicht.

Ein solcher „autonom handelnder Totalverweigerer“ müsste nämlich erstens vollumfänglich über die Folgen seiner Verweigerung wissen, zweitens praktisch und unmittelbar zur Arbeitsaufnahme fähig sein und drittens eine Stelle ablehnen, die er direkt aufnehmen könnte.

Es trifft diejenigen, die Hilfe am dringendsten benötigen

Die Totalsanktionen würden aber diejenigen treffen, die mit dieser (fiktiven) Figur nichts zu tun haben. Die Rechtsprofessorin Andrea Kiesling erläutert: „Oft handelt es sich bei diesen um psychisch stark belastete Personen oder um Personen mit Kompetenzdefiziten und Kommunikationsschwierigkeiten, um Menschen mit grundlegenden und mehrfachen Beschäftigungshindernissen (so das BVerfG 2019 in Rn. 59, 142).“

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Können Jobcenter psychische Probleme beurteilen?

Falls Totalsanktionen gegen vermeintliche „Totalverweigerer“ tatsächlich durchgeführt werden, ist Mitarbeitern der Jobcenter im Einzelfall nicht zuzutrauen, dies überhaupt einschätzen zu können.

Immer wieder sanktionieren Jobcenter Betroffene mit psychischen Einschränkungen und Suchterkrankungen, Menschen mit mangelnden Deutschkenntnissen, Lese- oder Schreibfähigkeiten sowie Verständnisproblemen, wegen vermeintlich „fehlender Mitwirkung“.

Regelmäßig rücken erst die Sozialgerichte diese falschen Einschätzungen der Mitarbeiter wieder gerade und dies selbst bei Bürgergeld-Beziehern mit psychiatrischen Diagnosen, deren Symptome für Außenstehende überdeutlich erkennbar sind, die Mitarbeiter der Jobcenter aber nicht zur Kenntnis nehmen.

Die nackten Zahlen entlarven das Märchen

Politiker aus CDU / CSU und FDP überbieten sich in Zahlen von 100.000 und mehr Leistungsberechtigten, die „Totalverweigerer“ wären und Bürgergeld vermeintlich als „bedingungsloses Grundeinkommen“ nutzen, nach dem Motto, man muss etwas nur lange wiederholen, damit es geglaubt wird, ganz egal, wie die Realität aussieht.

Die Statistik spricht nämlich eine klare Sprache. Lediglich 21.766 Sanktionen verhängten Jobcenter bei den rund 1,6 Millionen Bürgergeld-Beziehern, die grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also bei 1,36 Prozent. Der Großteil dieser Sanktionen lag an Meldeversäumnissen.

Die Nichtaufnahme einer Arbeit, Nichtbewerben auf eine Stelle, das Nicht-Erscheinen oder Abbrechen einer Maßnahme des Jobcenters – aus welchen Gründen auch immer – betraf wiederum lediglich 6,5 Prozent aller Sanktionen. Es handelt sich also um ein absolutes Randphänomen, bei dem es keinen sachlichen Grund gibt, es in den Fokus zu rücken.

Keine Totalsanktionen in der Praxis

Laut einem von der Zeitung Welt zitierten Mitarbeiter eines Jobcenters gibt es vermutlich nicht einen einzigen Bürgergeld-Bezieher, bei dem Totalsanktionen wegen Arbeitsverweigerung verhängt wurden.

Ablenkung von den echten Problemen

Die Gründe, warum Bürgergeld-Berechtigte, die grundsätzlich dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, nicht in reguläre Arbeit kommen, sind gänzlich andere als „Arbeitsverweigerung“. Zu diesen gehören fehlende Ausbildungen und oft sogar fehlende Schulabschlüsse. Es gibt in Deutschland aber einen Fachkräftemangel und keinen Hilfskräftemangel.

Bürgergeld-Bezieher nehmen Abstriche in Kauf

Untersuchungen belegen klar, dass Bezieher von Sozialleistungen sogar bereit sind, große Abstriche wie niedrigeren Lohn als zuvor, lange Arbeitswege oder ungünstige Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, um wieder in Beschäftigung zu kommen, die den Lebensunterhalt sichert.

Hilflosigkeit statt Verweigerung

Ana Paula Büsse vom Jobcenter Region Hannover zeigt ein gänzlich anderes Problem als Arbeitsverweigerung. Sie sagt: “Die Betroffenen sind oft hilflos und kommen in dem System nicht allein zurecht.”

Dysfunktionale Familien, psychische Störungen mit psychiatrischen Diagnosen wie schwere Depressionen und Angststörungen, fehlende Qualifikation, Suchterkrankungen und Schulden gehören zu den vielschichtigen Problemen, für die Hilfen nötig sind, damit die Betroffenen überhaupt im Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Statt diesen Hilflosen mit Totalsanktionen zu drohen, steht für Büsse an erster Stelle, „ihnen zu helfen, persönliche Probleme zu meistern, traumatische Fluchterlebnisse zu verarbeiten, um sie dann perspektivisch für den Arbeitsmarkt vorzubereiten.“

Sanktionen für die, die Behördensprache nicht verstehen

Der Verein Tacheles erläuterte: „Sanktionen erfolgen nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen könnten (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB II).”

Wer also Behördensprache versteht und weiß, wann er welches Schreiben beim Jobcenter abzuliefern hat, schafft es vermutlich, solche „wichtigen Gründe“ darzulegen. In Visier stehen also genau die, die schlecht Deutsch sprechen, Behördenvorgänge nicht verstehen, psychische Probleme haben oder kognitiv eingeschränkt sind.

Suchtkranke und Menschen mit psychischen Problemen trifft es am härtesten

Suchtkranke und / oder Menschen mit psychischen Einschränkungen geraten in vielen Fällen wegen dieser Probleme in den Bürgergeld-Bezug und wegen dieser Probleme kaum in reguläre Erwerbstätigkeit. Gerade sie, die auf den Sozialstaat am stärksten angewiesen sind, müssen fürchten, dass ihnen als vermeintliche „Totalverweigerer“ das Existenzminimum gestrichen wird.

Depressionen und Suizidgefahr

Nehmen wir Dieter (Name geändert). Dieter bezieht Bürgergeld, ist erwerbslos und in psychiatrischer Betreuung. Vor drei Monaten versuchte er Selbstmord zu begehen, sich mit einem Messer zu erstechen. Er leidet laut ärztlicher Diagnose an einer schweren und wiederkehrenden Depression, außerdem an Panikattacken und einer Angststörung.

Dieter ist verpflichtet, Stellenangebote anzunehmen, sich auf diese zu bewerben, andernfalls drohen ihm Totalsanktionen.

Wenn er also während einer schweren Depression das Haus kaum verlassen kann und nicht in der Lage ist, Telefonate zu führen oder auf Behördenschreiben zu antworten und ihm dies nicht durch ein ärztliches Attest bescheinigt wird, dann können ihm die Leistungen auf null gesetzt werden.

Die Folgen für Dieter wären verheerend und könnten ihn weiter in Richtung Suizid treiben. Bereits die Furcht, als „Totalverweigerer“ zu gelten, verschärfen die Probleme solcher Hilfebedürftigen.

Ein Angriff auf die Menschenwürde

Das politische Spiel um vermeintliche Totalverweigerer ist menschenverachtend und ein Angriff auf die Menschenwürde der finanziell Schwächsten in dieser Gesellschaft, und der Begriff Totalverweigerer verdient es damit, zum Unwort des Jahres erklärt zu werden.