Bürgergeld-Kürzung wegen Mitbewohnern: Wenn das Jobcenter Mitversorgung unterstellt

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Leistungskürzungen im Bürgergeld beginnen oft nicht mit einer offenen Ablehnung, sondern mit einer Unterstellung: Wer mit anderen zusammenwohnt, werde „mitversorgt“ oder „mitgetragen“. Das betrifft besonders Menschen in Wohngemeinschaften und erwachsene Kinder, die (wieder) im Elternhaus leben.

Aus einer gemeinsamen Adresse wird dann eine finanzielle Einstandspflicht konstruiert – obwohl das Gesetz hier klar trennt, welche Gemeinschaft welche Folgen hat.

Der Streit dreht sich fast nie um die Frage, ob man dieselbe Küche nutzt oder gelegentlich zusammen isst. Entscheidend ist, ob das Jobcenter rechtlich überhaupt in der richtigen Schublade prüft – und ob es nachvollziehbar feststellt, dass tatsächlich Geld oder geldwerte Vorteile in einer Weise fließen, die den Bedarf mindern.

Drei Rechtsbegriffe – drei völlig unterschiedliche Folgen

Im Bürgergeld sind drei Ebenen sauber auseinanderzuhalten. Die Bedarfsgemeinschaft ist der harte Kern: Hier wird Einkommen und Vermögen innerhalb der gesetzlich definierten Gemeinschaft berücksichtigt, etwa bei Partnern sowie bei Kindern im Haushalt, soweit das Gesetz sie der Bedarfsgemeinschaft zuordnet.

Daneben steht die Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bei Partnern. Das Jobcenter darf unter bestimmten Umständen vermuten, dass Partner füreinander einstehen. Diese Vermutung ist widerlegbar, sie lebt von objektiven Indizien und einer Gesamtwürdigung – nicht von moralischen Vorstellungen über „wie man zusammenlebt“.

Davon zu unterscheiden ist die Haushaltsgemeinschaft. Sie spielt typischerweise bei Verwandten oder Verschwägerten eine Rolle, etwa bei erwachsenen Kindern im Elternhaus.

In dieser Konstellation existiert eine Unterhaltsvermutung: Unterstützung kann angenommen werden, soweit sie nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Angehörigen erwartet werden kann. Diese Vermutung ersetzt aber nicht die Prüfung, ob überhaupt eine echte Wirtschaftsgemeinschaft vorliegt. Sie ist kein Automatismus nach dem Motto „gemeinsame Adresse gleich Unterstützung“.

Wo Jobcenter typischerweise falsch abbiegen

In Bescheiden taucht das Problem oft als Standardformel auf: Es werde „davon ausgegangen“, dass im Haushalt Unterstützung erfolgt. Genau hier kippt die Prüfung. Denn eine Haushaltsgemeinschaft verlangt mehr als räumliches Zusammenleben.

Das Jobcenter muss nachvollziehbar herausarbeiten, ob tatsächlich so gewirtschaftet wird, dass regelmäßig oder planmäßig Mittel zur Bedarfsdeckung bereitgestellt werden.

In der Praxis passiert das Gegenteil: Das Ergebnis steht gefühlt fest, die Begründung wird nachgeliefert. Mal wird bei Eltern/Kind die Unterhaltsvermutung reflexartig gezogen, ohne die Tragfähigkeit zu prüfen. Mal wird in einer WG plötzlich eine Partnergemeinschaft vermutet, weil das Zusammenleben „zu eng“ wirke. Für Betroffene wird es teuer, wenn diese Zuschreibungen nicht sauber getrennt und belegt werden.

So sehen die Kürzungen in der Praxis aus

Bei erwachsenen Kindern im Elternhaus wird häufig unterstellt, sie würden faktisch mitversorgt. Der Bescheid arbeitet dann mit einer impliziten Annahme, dass Lebensmittel, Strom, Internet oder Alltagskosten „ohnehin übernommen“ würden – ohne dass konkret festgestellt wird, in welchem Umfang das tatsächlich passiert und ob es nach Einkommen und Belastungen der Angehörigen überhaupt erwartet werden kann.

In Wohngemeinschaften wiederum rutscht die Verwaltung häufig in eine Partnerlogik: Aus gemeinsam genutzten Räumen oder einer „harmonischen Haushaltsführung“ wird ein Einstehen füreinander gemacht. Dabei sind genau solche Merkmale in WGs alltäglich und sagen für sich genommen nichts über finanzielle Verflechtung aus.

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Was in Verfahren wirklich überzeugt

Wenn das Jobcenter eine Haushaltsgemeinschaft tragfähig feststellt, kann sich die Auseinandersetzung verschieben: Dann wird von Betroffenen häufiger verlangt, die vermutete Unterstützung zu entkräften oder jedenfalls in ihrer Höhe zu begrenzen. In der Praxis überzeugt weniger eine empörte Zurückweisung als eine nachvollziehbare Struktur.

Tragfähig sind klare Trennlinien: getrennte Konten, keine gegenseitigen Verfügungsbefugnisse, keine regelmäßigen Geldflüsse, keine dauerhafte Übernahme von laufenden Ausgaben. Auch eine transparente Kostenregelung im Haushalt wirkt, weil sie die „Topf“-Logik bricht: Wenn nachvollziehbar ist, wer welchen Anteil trägt, wird die pauschale Annahme von verdeckter Unterstützung weniger plausibel.

Ebenso wichtig ist die Differenzierung zwischen gelegentlicher Hilfe und laufender Bedarfsdeckung. Einzelne Unterstützungen in Ausnahmesituationen sind sozial normal – sie begründen nicht automatisch, dass der Lebensunterhalt dauerhaft mitgetragen wird.

WG-Fälle: Warum § 9 Abs. 5 hier meist gar nicht die passende Norm ist

In reinen WGs unter Nichtverwandten ist die Unterhaltsvermutung der Haushaltsgemeinschaft regelmäßig nicht das richtige Raster. Dort geht es typischerweise um zwei andere Fragen: Wie werden Unterkunftskosten aufgeteilt, und versucht das Jobcenter, aus dem Zusammenleben eine Partnerschaft abzuleiten?

Für die Partner-Unterstellung braucht es belastbare Indizien für ein Einstehen füreinander – insbesondere finanzielle Verflechtung oder Verfügungsmacht. Dass man sich im Alltag arrangiert, Räume teilt oder gelegentlich zusammen einkauft, ist dafür zu wenig. Wird dennoch in diese Richtung argumentiert, liegt der Fehler oft nicht im Detail, sondern schon in der falschen Grundannahme.

Warum diese Kürzungen so häufig durchrutschen

Das Thema ist so konfliktträchtig, weil es zwischen Lebenswirklichkeit und Rechtsbegriffen hängt. Verwaltung arbeitet gern mit Standardannahmen, Betroffene leben oft in Mischformen: mal kostet Wohnen weniger, mal hilft man sich punktuell, mal ist die Haushaltsführung pragmatisch organisiert. Aus solchen Normalitäten wird dann ein juristisches „Einstehen“ konstruiert.

Die Linie, die sich durch die Rechtsprechung zieht, ist nüchtern: Vermutungen sind keine Wahrheit. Wer kürzt, muss plausibel machen, warum Unterstützung zu erwarten ist – und in welcher Größenordnung sie den Bedarf tatsächlich mindert.

FAQ

Darf das Jobcenter bei erwachsenen Kindern im Elternhaus automatisch kürzen?
Nein. Es muss nachvollziehbar geprüft werden, ob tatsächlich so gewirtschaftet wird, dass regelmäßig Unterstützung den Bedarf mindert, und ob diese nach den wirtschaftlichen Verhältnissen überhaupt erwartet werden kann.

Reicht eine gemeinsame Küche als Beweis für eine Haushaltsgemeinschaft?
Nein. Gemeinschaftlich genutzte Räume sagen nichts über finanzielle Unterstützung.

Was überzeugt typischerweise am stärksten, wenn Unterstützung bestritten wird?
Eine nachvollziehbare Trennung der Finanzen und das Fehlen regelmäßiger Geldflüsse bzw. Verfügungsbefugnisse.

Gilt die Unterhaltsvermutung auch in einer WG mit Freunden?
In der Regel nicht, weil sie an Verwandtschaft/Verschwägerung anknüpft. In WGs geht es eher um KdU-Aufteilung oder um die Frage, ob fälschlich eine Partnerschaft unterstellt wird.

Quellenübersicht

  • Bundessozialgericht, Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 55/19 R
  • Bundessozialgericht, Urteil vom 27.01.2009 – B 14 AS 6/08 R
  • Landessozialgericht München, Beschluss vom 28.06.2021 – L 16 AS 197/21
  • Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.09.2021 – L 21 AS 442/20
  • Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen zu § 9 SGB II (Stand 03/2023)