Niels Seibert beobachte zahlreiche Prozesse der Außenstelle des Amtsgericht Tiergarten in Berlin-Tempelhof und veröffentlichte die Erkenntnisse. Was er beim Gericht sehen musste, war erschütternd. Der Grund, warum die meisten Angeklagten vor Gericht landen, ist ihre Armut.
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Kaum Einstellungen wegen Geringfügigkeit
Gegen diese Armen gehen die Richter, so Seibert, mit unerbittlicher Härte vor: “Einstellungen wegen Geringfügigkeit sind äußert selten, eine Einstellung gegen Sozialstunden oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt hat es in insgesamt 100 von mir beobachteten Gerichtsverhandlungen kein einziges Mal gegeben.”
Angeklagte sind Arme
Er schreibt: “Angeklagt sind in der Regel arme, sozial benachteiligte, kranke oder – wie sie es selbst formulieren – »vom Schicksal gebeutelte« Menschen, die kein einfaches Leben führen.”
750 Euro wegen entwendetem Klopapier
Die Urteile sind drakonisch. So musste ein Mann, der von einer mickrigen Erwerbsunfähigkeitsrente lebt, und dessen Monatsmiete von 158 Euro das Amt übernimmt, insgesamt 750 Euro zahlen. Der Grund: Er hatte eine Packung Toilettenpapier bei Rossmann mitgehen lassen.
Vier Monate Gefängnis wegen versuchten Ladendiebstahls
Ein kaum glaubliches Missverhältnis zwischen Tat und Strafe beschrieb Seifert im Neuen Deutschland: “Vier Monate Haft ohne Bewährung für eine Mutter von vier Kindern, darunter ein fünf Monate altes Baby, für den Versuch, Lebensmittel für 47,57 Euro im Discounter Netto ohne zu bezahlen mitzunehmen.”
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Abstrafen im Viertelstundentakt
Solche Urteile gibt es in Tempelhof in Serie. Seibert schreibt: “Ein 1977 in (…) Mann (…) soll unter Alkoholeinfluss eine Flasche (Wodka) in Wert von knapp acht Euro bei Edeka mitgenommen haben. Er hat knapp 20 Eintragungen im Strafregister und wurde zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 15 Euro verurteilt.”
Wer nicht zahlen kann, geht ins Gefängnis
Was für Menschen, die etwas mehr Geld in der Tasche haben, zu stemmen ist, bedeutet für Angeklagte in Tempelhof oft Gefängnis, so Seibert: “Einige Verurteilte, die das Geld nicht aufbringen können, werden die Strafe ersatzweise im Knast absitzen. Bei 50 Tagessätzen heißt das aktuell insgesamt 25 Tage Haft.”
Statt Prävention Strafe
Auch das Gericht in Tempelhof ist eigentlich der Prävention verpflichtet. Davon kann, laut Seibert, aber keine Rede sein.
Er erklärt: “Schon mit dem Verhängen einer Geldstrafe bei Armutsdelikten wird die Justiz einer angeblich beabsichtigen Prävention nicht gerecht. Die Strafe hilft nicht gegen die vielfältigen Probleme, die die Menschen haben, die diese Delikte begehen – im Gegenteil. Oft erschwert sie die weitere Lebensführung unverhältnismäßig stark.”
Armutsdelikte als Folge der Inflation
Viele der Taten, die vor Gericht verhandelt werden, zeigen sich als Überlebensstrategien der verstärkten Armut infolge der Inflation. Zum Beispiel seien Ladendiebstähle sprunghaft angestiegen.
Immer härten strafen statt zu reflektieren
Die Richter würden im Wiederholungsfall immer härter strafen. Über Hilfe für soziale Nöte nachzudenken, gehöre hingegen nicht zu ihrer Tätigekeit.
Krankheiten, Hunger, Armut und Probleme der Angeklagten könnten die Richter oft nicht nachempfinden. Er schreibt: “Die Angeklagten, die vor ihnen sitzen, und deren Leben sind ihnen fremd.”
Die Justiz hat keine Antwort auf die Armut
Im Neuen Deutschland fasste Seibert zusammen: “Nicht die Straftaten erschrecken, sondern das Justizsystem einer Gesellschaft, die keine angemessenen Antworten auf die existierende Armut hat.”
Seibert zufolge geht es bei den Betroffenen nicht um Kriminalität, sondern um Armut, Krankheit, um Sucht und psychische Leiden. Er schließt: “Soziale und gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht strafrechtlich lösen.”