Hartz IV alimentiert die Menschen ganz gut?

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Hartz IV alimentiert die Menschen ganz gut? Offener Brief an Offener Brief an Dr. Rita Knobel-Ulrich aufgrund der Aussagen bei der TV Sendung "Anne Will" in der ARD

Sehr geehrte Frau Knobel-Ulrich,

am 25.Mai haben Sie in der Sendung โ€žAnne Willโ€œ in der ARD โ€“ unter anderem โ€“ folgende ร„uรŸerung getรคtigt:
"Hartz IV alimentiert die Menschen ganz gut. Vater, Mutter und zwei Kinder bekommen 345 Euro pro Erwachsenen, 247 Euro pro Kind, plus Wohngeld, plus Heizung, plus Strom, plus Krankenversicherung. Das sind circa 2000 Euro im Monat. Das muss man erst mal verdienen! Ein Mann, der vielleicht der einzige Verdiener ist, der im Kindergarten den hรถchsten Satz zahlt, weil man sagt โ€šDu hast ja Arbeitโ€˜, der jeden Tag sieht, dass seine Tankfรผllung teurer wird, dem nicht angeboten wird, dass er ein Sozialticket fรผr die U-Bahn bekommt, der muss mit diesen 2000 Euro ganz schรถn haushalten."

Wir, die Aktiven Erwerbslosen in Deutschland, verwahren uns nachdrรผcklich gegen die Behauptung, wir, die wir betroffen sind, wรผrden "ganz gut alimentiert". Weiter sind wir entsetzt รผber Ihre offenkundige Unkenntnis verschiedener Fakten, die einer Journalistin, die mehrfach ausgezeichnet wurde, nicht nachzusehen ist. Dass Sie nicht einmal wissen, welche Leistungen Hartz-IV-Anspruchsberechtigte tatsรคchlich bekommen, ist noch der geringste Punkt.

Hartz-IV-Anspruchsberechtigte mรผssen von 347 Euro ihren Strom selber zahlen, ebenso Warmwasser oder Gas zum Kochen. Ehepartner oder Lebensgefรคhrten in einer Bedarfsgemeinschaft erhalten nur 90 Prozent des Regelsatzes, also 312 Euro, und Sozialtickets gibt es zwar in einigen grรถรŸeren Stรคdten, die Masse der Erwerbslosen zahlt aber die vollen Preise. Hartz-IV-Anspruchsberechtigte bekommen auch kein โ€žWohngeldโ€œ, das ist eine ganz andere Leistungsart, vielmehr รผbernimmt die zustรคndige ARGE Mietkosten in "angemessener Hรถhe". In welcher Hรถhe Kosten als angemessen anzusehen sind, richtet sich nach den รถrtlichen Gegebenheiten und ist nicht bundeseinheitlich geregelt.

Schade, Frau Dr. Knobel-Ulrich, dass Sie nicht einmal diese einfachen Fakten sorgfรคltig recherchiert haben! Dabei hรคtten Sie nur einen kurzen Blick in das Informationsheft der Bundesagentur fรผr Arbeit zum SGB II werfen mรผssen, das in jeder Geschรคftsstelle ausliegt.

Was war Ihre Antwort auf die Frage โ€žWas wรผrden Sie als ALG-II-Empfรคngerin machen, wenn Ihre Waschmaschine kaputt geht?โ€œ? Sie sagten: "Dann wรผrde ich in den Waschsalon gehen." Genau das wรผrden Sie nicht tun, denn Sie hรคtten nicht das Geld dafรผr, falls Sie รผberhaupt in einer Gegend wohnten, in der es so etwas gibt.

Hartz-IV-Anspruchsberechtigte sollen von 347 Euro oder weniger Gas und Strom zahlen, Telefon und Versicherungen, darรผber hinaus auch noch Rรผcklagen fรผr Neuanschaffungen bilden, Bus- oder Bahntickets kaufen, Praxisgebรผhren und Medikamentenzuzahlungen leisten. Eltern behinderter Kinder sollen vom Regelsatzanteil der Kinder (347 Euro = 100 %) zusรคtzlich sogar noch Teile notwendiger Therapiekosten tragen. Nach diesen ganzen Abzรผgen reicht die Differenz nicht einmal mehr fรผr die Lebensmittel nach Art der "Sarrazin-Diรคt".

Der Familienvater, der 2000 Euro nach Hause bringt, bekommt wenigstens noch das Kindergeld zusรคtzlich, das den Eltern in Hartz-IV-Familien nicht zur Verfรผgung steht und vermutlich auch Wohngeld. AuรŸerdem vergleichen Sie offenbar das Brutto-Einkommen der Hartz-IV-Anspruchsberechtigten mit dem Netto-Einkommen eines Erwerbstรคtigen. Ihr Beispiel hinkt, Frau Knobel-Ulrich!

Wie sagten Sie noch in der TV-Sendung? "Ich habe genug Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Arbeitslosigkeit eingerichtet haben." Das glauben wir Ihnen gern, denn Sie haben ja offenbar genau nach diesen gesucht. Eine alte Erfahrung ist, dass man immer das findet, was man sucht. Natรผrlich gibt es einzelne Fรคlle, auf die das, was Sie behaupten, zutrifft, aber das ist kein Grund, einen Generalverdacht in der Art zu รคuรŸern, als ob rund acht Millionen Deutsche Sozialschmarotzer wรคren.

Ein automatisierter Datenabgleich von 3,2 Millionen Datensรคtzen im Oktober 2005 ergab knapp 60.000 Fรคlle von nicht angegebenen Einkommen (1,9 Prozent). Dabei wurden auch die Fรคlle erfasst, in denen ein Einkommen erzielt, aber nicht rechtzeitig oder aus Unkenntnis nicht angegeben oder doch angegeben worden war, aber im Chaos der Behรถrde unter den Tisch gefallen war. Nur in 22.900 Fรคllen bestand der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit oder einer Straftat aufgrund falscher Angaben. Nur in 4.200 Fรคllen wurde der Anspruch auf ALG II gestrichen. Bezogen auf die Zahl von 3,2 Millionen Datensรคtzen ist das wirklich ein "ganz immenser Missbrauch".

Ein Bericht darรผber ist natรผrlich lรคngst nicht so spannend wie eine "Reportage" รผber zwar verhรคltnismรครŸig wenige Leute, die sich aber so durchmogeln und die man dann mit geschรคtzten acht Millionen anderer Bedรผrftiger polemisch-populistisch in denselben Topf werfen kann. Gute journalistische Arbeit ist das jedenfalls nicht.

Ich zitiere aus der Prรคambel des Grundsatzprogramms des Deutschen Journalisten-Verbandes:

"Presse und Rundfunk haben im demokratischen Staat die Aufgabe, die Staatsbรผrgerinnen und Staatsbรผrger so zu informieren, dass sie am Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen kรถnnen โ€ฆ
Den aus dem Grundgesetz Presse und Rundfunk verbrieften Rechten muss die Pflicht der Journalistin und des Journalisten zu einer sachlichen und fairen Berichterstattung entsprechen โ€ฆ Aufgabe und Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten ist es insbesondere, die Rechte einer jeden Bรผrgerin und eines jeden Bรผrgers auf Achtung und Schutz der Menschenwรผrde, auf freie Entfaltung der Persรถnlichkeit und auf freie Unterrichtung aus allgemein zugรคnglichen Quellen zu wahren โ€ฆ
Ethische Grundprinzipien fรผr die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten sind die Absage an Intoleranz, Rassismus, Totalitarismus und Fremdenfeindlichkeit."

Wann wollen Sie, was die Erwerbslosen betrifft, damit anfangen, Frau Knobel-Ulrich?
Mit freundlichen GrรผรŸen Hans-Jรผrgen Vollmer (Initiative Berliner Montagsdemo, 28.05.2008)

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