Wenn das Jobcenter plötzlich erklärt, die Miete sei „unangemessen hoch“, geht es um die Kosten der Unterkunft (KdU). Häufig wird nur noch ein Teil der Miete übernommen, verbunden mit Kostensenkungsaufforderung oder Umzugsdruck.
Was viele nicht wissen: Hinter solchen Bescheiden stecken oft fehlerhafte Mietobergrenzen, veraltete Richtlinien oder formale Schnitzer.
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Praxisfall: „Unangemessene“ Miete – und trotzdem volle Kostenübernahme
Frau M., 59, lebt mit ihrem erwachsenen Sohn in einer 70-Quadratmeter-Wohnung in einer Großstadt. Die Kaltmiete beträgt 720 Euro, dazu kommen 150 Euro kalte Nebenkosten und 120 Euro Heizkostenvorauszahlung. Das Jobcenter übernimmt plötzlich nur noch 650 Euro Bruttokaltmiete und erklärt die Wohnung für „unangemessen“.
Im Bescheid tauchen gleich mehrere Fehler auf: Die Behörde rechnet nur mit einem Ein-Personen-Haushalt, obwohl der Sohn zur Bedarfsgemeinschaft gehört.
Sie stützt sich auf eine Unterkunftsrichtlinie, die noch alte Mietdaten nutzt, obwohl es längst einen neuen Mietspiegel gibt. Die Kostensenkungsaufforderung enthält weder eine klare Obergrenze noch Hinweise auf Umzugshilfen.
Frau M. legt Widerspruch ein, legt Mietvertrag und Betriebskostenabrechnung vor und dokumentiert, dass es im gesamten Stadtgebiet praktisch keine Zwei-Personen-Wohnungen zur genannten Obergrenze gibt. Vor Gericht scheitert die Kommune daran, ein schlüssiges Konzept nachzuweisen.
Das Gericht orientiert sich an den Werten des Wohngeldgesetzes plus Zuschlag – und stuft die Miete als angemessen ein. Das Jobcenter muss die tatsächlichen Unterkunftskosten vollständig übernehmen.
Erster Schritt: Bescheid mit Mietvertrag abgleichen
Ganz am Anfang steht der Zahlencheck. Mietvertrag, letzte Mieterhöhung, Betriebskostenabrechnung und Bescheid sollten nebeneinander liegen. Wichtig ist, ob das Jobcenter die Kosten richtig aufteilt: Kaltmiete, kalte Nebenkosten, Heizkosten.
Typische Fehler: Kabelgebühren, Aufzug, Müll oder zwingende Servicepauschalen in betreutem Wohnen werden einfach nicht berücksichtigt. Sind diese Posten vertraglich geschuldet, gehören sie grundsätzlich zu den Kosten der Unterkunft.
Weichen die im Bescheid anerkannten Beträge von den vertraglichen Kosten ab, muss die Behörde das konkret begründen. Tut sie das nicht oder rechnet offensichtlich falsch, gehört genau das in den Widerspruch – mit Kopien von Mietvertrag, Nebenkostenabrechnung und Kontoauszügen.
Örtliche KdU-Richtlinie: Welche Obergrenzen gelten wirklich?
Der nächste Prüfungspunkt ist die Unterkunftsrichtlinie der Kommune. Nahezu jede Stadt und jeder Landkreis veröffentlicht Tabellen mit Mietobergrenzen. Gesucht wird nach Begriffen wie „KdU-Richtlinie“ oder „Richtlinie Unterkunft und Heizung“ plus Name der Kommune.
Darin ist geregelt, welche Mieten als angemessen gelten – oft nach Haushaltsgröße und Quadratmeterzahl. Wichtig ist, ob die Richtlinie von Bruttokaltmieten (Kaltmiete plus kalte Nebenkosten) oder nur von Nettokaltmieten ausgeht.
Wer mit zwei Personen wohnt, darf nicht grundsätzlich auf Ein-Personen-Werte verwiesen werden. Misstrauen ist angebracht, wenn es nur eine pauschale Obergrenze für alle Haushaltstypen gibt oder Betriebskosten kaum erkennbar eingerechnet sind.
Betroffene sollten außerdem prüfen, wie alt die Datengrundlage ist. Bezieht sich die Richtlinie noch auf Mietdaten von vor vielen Jahren, obwohl der Mietspiegel inzwischen höher liegt, spricht viel dafür, dass die Mietobergrenzen das tatsächliche Mietniveau nicht mehr widerspiegeln.
Schlüssiges Konzept statt Zahlen aus der Verwaltungsschublade
Eine bloße Tabelle reicht rechtlich nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts benötigt die Kommune ein „schlüssiges Konzept“. Dazu gehören ein plausibel abgegrenzter Vergleichsraum, eine repräsentative Datenerhebung (Mietspiegel oder Gutachten) und eine Differenzierung nach Haushaltsgröße und Wohnungsstandard. Reine Verwaltungsschätzungen oder vage „Erfahrungswerte“ reichen nicht aus.
In der Richtlinie sollte zumindest erkennbar sein, auf welchen Mietspiegel oder welches Gutachten sie sich stützt und aus welchem Jahr die Daten stammen. Problematisch wird es, wenn Stadtteile mit sehr unterschiedlichen Mietniveaus künstlich zusammengezogen oder teure innerstädtische Lagen praktisch ausgeblendet werden.
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Bescheid prüfenDann sinkt die Mietobergrenze auf dem Papier, ohne dass es tatsächlich ausreichend Wohnungen zu diesen Preisen gibt.
In Widerspruch und Klage können Betroffene genau hier ansetzen: Das Jobcenter muss erläutern, warum sein Konzept schlüssig sein soll. Wenn das nicht gelingt, greifen Gerichte häufig auf die Werte des Wohngeldgesetzes plus Sicherheitszuschlag zurück.
Wohnfläche, Vergleichsraum und dokumentierte Wohnungssuche
Ein weiterer Angriffspunkt sind Wohnfläche und Vergleichsraum. Viele Richtlinien orientieren sich an Grenzwerten wie 50 Quadratmeter für eine Person, 60 Quadratmeter für zwei Personen. Starre Quadratmetergrenzen werden schnell problematisch, wenn etwa Rollstuhlnutzung, Pflegehilfsmittel oder eine besondere Wohnsituation mehr Platz erfordern.
Genauso wichtig ist die Frage, ob der Vergleichsraum passt. Wer in einer teuren Großstadt wohnt, kann nicht mit Werten eines deutlich billigeren Umlandkreises verglichen werden.
Werden eher günstige Randgemeinden und teure Stadtteile zusammengeworfen, sinken die rechnerischen Mieten, ohne dass die Betroffenen tatsächlich umziehen können.
Deshalb ist eine dokumentierte Wohnungssuche so wichtig. Wer Anzeigen sammelt, Absagen aufbewahrt und notiert, zu welchen Preisen Wohnungen überhaupt angeboten werden, kann vor Gericht zeigen, dass die angeblich „angemessenen“ Mieten in der Realität kaum erreichbar sind.
WoGG plus zehn Prozent: Ersatzmaßstab, wenn das Konzept fällt
Stuft ein Gericht das kommunale Konzept als unschlüssig ein, greift es häufig auf die Tabellenwerte des Wohngeldgesetzes zurück, meist mit einem Zuschlag von rund zehn Prozent. Diese Werte dienen dann als Obergrenze für angemessene Mieten.
Für Betroffene ist das ein starkes Argument, wenn die örtliche Richtlinie auf veralteten oder intransparenten Grundlagen beruht und deutlich unterhalb der Wohngeldwerte liegt.
Im Widerspruch kann deshalb beides kombiniert werden: Kritik am Konzept (veraltete Daten, unklarer Vergleichsraum, fehlende Transparenz) und der Hinweis, dass die eigene Miete innerhalb der Spanne der Wohngeldwerte plus Zuschlag liegt.
Kostensenkungsaufforderung, Fristen und Überprüfungsantrag
Vor einer Kürzung muss in der Regel eine Kostensenkungsaufforderung erfolgen. Sie muss eine konkrete Obergrenze nennen, auf die Rechtsfolgen hinweisen und eine Frist setzen.
In dieser Übergangszeit werden die tatsächlichen Unterkunftskosten meist weiter anerkannt. Kürzt das Jobcenter sofort oder ohne klare Aufforderung, ist das ein häufiger Ansatzpunkt im Widerspruch.
Gegen einen fehlerhaften KdU-Bescheid kann innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegt werden. Ist die Frist verstrichen, bleibt oft der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, mit dem rechtswidrige Bescheide rückwirkend korrigiert werden können.
In der Praxis werden so vielfach für bis zu ein Jahr rückwirkend Leistungen nachgezahlt. Gerade bei dauerhaften Mietkürzungen geht es schnell um erhebliche Beträge.
Fazit: Systematisch prüfen statt Kürzung hinnehmen
Wer eine KdU-Kürzung erhält, sollte nicht vorschnell umziehen oder die Differenz aus dem Regelsatz ausgleichen. Zuerst gehört der Bescheid mit Mietvertrag und Nebenkostenabrechnung abgeglichen. Dann muss die örtliche KdU-Richtlinie auf Aktualität, Datengrundlage und plausiblen Vergleichsraum geprüft werden.
Eine dokumentierte Wohnungssuche zeigt, ob die Obergrenzen überhaupt erreichbar sind. Schließlich sind Kostensenkungsaufforderung, Fristen und persönliche Zumutbarkeit zu kontrollieren.
Fehlerhafte KdU-Entscheidungen sind kein Randphänomen. Wer die Mietobergrenzen hinterfragt, Urteile und Wohngeldwerte als Maßstab nutzt und seine Wohnungssuche belegt, hat gute Chancen, unrechtmäßige Kürzungen zu stoppen – und die eigene Wohnung trotz Jobcenter-Druck zu halten.




