Neue Grundsicherung statt Bürgergeld: Für psychisch Erkrankte besonders kritisch

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Die Bundesregierung sagt die Neue Grundsicherung sei„effizienter“ und „moderner“. In Wahrheit verstärkt sie nach Ansicht vieler Sozialverbände Druck, Kontrolle und Sanktionen – besonders für Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Diese müssen in Zukunft persönlich beim Jobcenter vorsprechen, um zu prüfen, ob „die Betroffenen wirklich krank sind“. Das kritisiert Helena Steinhaus, Gründerin der Intitiative Sanktionsfrei e.V.

Härtere Sanktionen

Die geplanten Regeln setzen auf Verschärfung. Jobcenter-Mitarbeiter kürzen künftig schneller Leistungen und greifen bei wiederholten Pflichtverletzungen sogar zum vollständigen Leistungsentzug. So sieht das Konzept es vor. Dieses Vorgehen trifft niemanden so stark wie psychisch Erkrankte.

Sie erleben Druck statt Hilfe, Misstrauen statt Verständnis und Angst statt Stabilität. Menschen, die schon enorme Kraft mobilisieren müssen, um ihren Alltag zu bewältigen, geraten so permanent in existenzielle Not.

Die „Fiktion der Nichterreichbarkeit“ – wie Verwaltung Realität ausblendet

Drei verpasste Meldetermine im Monat gelten künftig als „Nichterreichbarkeit“. Das Jobcenter stellt dann alle Leistungen ein – Regelsatz, Miete, Krankenversicherung.

Psychisch Erkrankte verpassen Termine jedoch nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil Panikattacken, depressive Einschnitte, dissoziative Zustände oder soziale Phobie sie im Alltag blockieren. Die neue Regel blendet diese Realität vollständig aus.

Angststörungen, Depressionen, Panikattacken oder soziale Phobien lösen sich nicht durch behördlichen Zwang. Sie eskalieren, wenn das System Druck ausübt. Diese Reform gefährdet Menschen, die ohnehin täglich kämpfen. Sie verletzt Grundrechte und zerstört Vertrauen.

Schutzwürdigkeit besteht nur in der Theorie

Zwar gilt eine psychische Erkrankung auf dem Papier auch bei der neuen Grundsicherung als schutzwürdiger Umstand. Allerdings drohen bei Nichteinhaltung der Mitwirkungspflichten, wie zum Beispiel bei versäumten Terminen, weiterhin Sanktionen. Dies gilt vor allem, wenn Betroffene keinen wichtigen Grund für das Versäumnis nachweisen können.

Es gehört jedoch zum Wesen psychischer Leiden, solche im Sinne des Jobcenters „sachlichen“ Gründe nicht nachweisen zu können. Wer zum Beispiel in einer Psychose Wahnvorstellungen entwickelt und irrational handelt, kann dies eben gerade nicht rational begründen – und vor allem nicht gegenüber einem psychologisch unqualifizierten Mitarbeiter des Jobcenters.

Fehlentscheidungen sind vorprogrammiert

Fehlentscheidungen der zuständigen Sachbearbeiter sind also vorprogrammiert. Das Jobcenter verlangt psychologische Beurteilungen, ohne psychologisches Fachwissen zu besitzen. Mitarbeitende sollen das Verhalten psychisch erkrankter Menschen einschätzen, obwohl sie keine Expertise über Angststörungen, Psychosen, Depressionen, Trauma oder Dissoziation haben.

Böser Wille oder fehlende Qualifikation?

Sie interpretieren vermeidendes Verhalten oft als Unwillen, Überforderung als Unehrlichkeit, Panikattacken als „Ausrede“ und Depressionen als Arbeitsverweigerung. Diese Fehleinschätzungen entstehen oft nicht einmal aus bösem Willen, sondern aus fehlender Ausbildung – doch sie gefährden die Existenz der Betroffenen.

Für Betroffene steht die Existenz auf dem Spiel

Ein System, das Laien über Therapiebedarfe, Arbeitsfähigkeit und Mitwirkung urteilen lässt, produziert zwangsläufig Fehlentscheidungen. Und jede dieser Fehlentscheidungen kann Wohnung, Behandlung und Lebensgrundlage kosten. Die Geschädigten haben oft weder die Kraft noch sind sie psychisch in der Lage, sich juristisch gegen falsche Unterstellungen und Sanktionen der Jobcenter zur Wehr zu setzen.

Mögliche Szenarien der neuen Grundsicherung in der Praxis

1. Panikattacken lösen Totalsanktionen aus
Lena lebt mit Panikattacken. Drei Nächte voller Angstzustände rauben ihr Schlaf, drei Morgen voller Überforderung verhindern den Weg ins Jobcenter. Das System reagiert nicht mit Verständnis, sondern mit existenzbedrohendem Leistungsentzug.

2. Soziale Phobie als „Arbeitsverweigerung“
Samir bricht eine Gruppenmaßnahme ab, weil er kaum Luft bekommt und zittert, sobald er im Mittelpunkt stehen soll. Das Jobcenter deutet seine Erkrankung als mangelnde Kooperation.

3. Generalisierte Angst kollidiert mit behördlichen Erwartungen
Sabine unterschreibt alles aus Angst vor Sanktionen. Als sie später an ihren krankheitsbedingt unerfüllbaren Verpflichtungen scheitert, straft das Jobcenter sie ab.

Eine Betroffene berichtet

Eine Betroffene beschreibt, wie schnell sie in einen Sanktionsmechanismus rutscht, obwohl sie erkennbar erkrankt ist. Nach einem Krankenhausaufenthalt fehlt ihr jede Kraft. Sie schafft es nicht, sich zu melden, nicht zum Arzt und nicht zu ihrem Termin.

Beim Ersatztermin schläft sie nach einer Nacht voller Angstzustände ein und schreibt anschließend eine E-Mail. Den dritten Termin erzwingt sie trotz eines Ermüdungsbruchs im Fuß, weil sie massive Angst vor Sanktionen spürt.

Gleichzeitig erlebt sie Zustände, die ihr Denken blockieren. Akute soziale Phobie und dissoziative Episoden verhindern oft jede Handlung. Selbst alltägliche Situationen geraten aus der Kontrolle: Als der Schornsteinfeger klingelt, braucht sie mehrere Minuten, um überhaupt zu begreifen, was passiert. Jede Aufgabe wirkt plötzlich bedrohlich und überwältigend.

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Ihre Geschichte zeigt: Psychische Erkrankungen sind unsichtbar, unvorhersehbar und zutiefst einschränkend. Ein System, das solche Realität ignoriert, bestraft Menschen für ihre Krankheit.

Ergänzendes Beispiel: Panikattacke und Unsichtbarkeit der Krankheit

Eine weitere Betroffene schafft es an manchen Tagen nicht einmal in den Keller, weil die Angst vor Begegnungen sie blockiert. Gleichzeitig erwartet das Jobcenter von ihr, dass sie ihre unsichtbare Erkrankung gegenüber nicht-psychologisch ausgebildeten Mitarbeitenden plausibel macht – während sie eine Panikattacke durchlebt. Das System verlangt rationale Erklärungen in Momenten, in denen rationales Denken kaum möglich ist.

Attest und Diagnose können schützen, kommen aber oft zu spät

Einen gewissen Schutz vor den Sanktionen des Jobcenters bieten psychiatrische Diagnosen und ärztliche Atteste, die die jeweilige psychische Erkrankung und die entsprechenden Symptome bestätigen. Sie können belegen, dass Betroffene in einer akuten Situation ihre Mitwirkungspflichten nicht erfüllen konnten.

Doch bis zu einer psychiatrischen Diagnose ist es ein langer Weg. Die Wartezeiten für einen Termin beim Facharzt sind lang. Wer noch nicht in ärztlicher Behandlung ist, aber ganz real unter Panikattacken leidet, unter einer Angststörung oder einer Depressionen, wer seinen Körper nur betäubt wahrnimmt oder Wahnvorstellungen entwickelt, kann keinerlei Schutz vor den Härten des Jobcenters erwarten.

Therapeutischer Hick-Hack und Druck vom Jobcenter

Der therapeutische Befund gleicht einem widersprüchlichen Versprechen: Psychische Erkrankungen sind zwar oft gut behandelbar, und qualifizierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stehen bereit – doch Termine bleiben knapp.

Während Betroffene auf Wartelisten ausharren müssen, erhebt die Bundes-Psychotherapeutenkammer schwere Vorwürfe gegen die Krankenkassen: Diese blockierten die Zulassung weiterer Praxen, offenbar aus einer Sparhaltung, die am Ende mehr Schaden als Nutzen anrichtet.

Warten auf die Behandlung und existentielle Angst

Für akute seelische Krisen existiert zwar eine ambulante Notfallbehandlung, jedoch erst nach einer Wartezeit von drei Wochen – vorausgesetzt, die Krise lässt sich so lange aufschieben. Anschließend beginnt für die Betroffenen häufig erneut das Warten.

Dieses dauert durchschnittlich drei bis neun Monate, bei rund 40 Prozent aller Patientinnen und Patienten. Und das, obwohl bereits in der psychotherapeutischen Sprechstunde festgestellt wurde, dass eine Behandlung dringend erforderlich ist. Zu diesem zermürbenden Warten kommt bei bei Beziehern der Grundsicherung die ständige und allzu berechtigte Angst vor Sanktionen.

Armut fördert psychische Erkrankungen

Zudem fördert das Leben am Existenzminimum im Bürgergeld-Bezug sowieso schon psychische Erkrankungen. Ein niedriges Einkommen belastet die Psyche erheblich. Armut gehört – ebenso wie genetische Faktoren, traumatische Erlebnisse, Hirnverletzungen oder andere soziale und ökologische Einflüsse – zu den zentralen Risiken für psychische Erkrankungen. Sie fördert Angststörungen und Depressionen und kann im schlimmsten Fall bis in die Suizidalität führen.

FAQ – Die 5 wichtigsten Fragen für psychisch Erkrankte in der neuen Grundsicherung

1. Schützt mich meine Erkrankung automatisch vor Sanktionen?
Nein. Ohne Atteste erkennt das Jobcenter viele Erkrankungen nicht an.

2. Welche Folgen haben verpasste Termine?
Drei versäumte Meldetermine pro Monat führen direkt zur Totalsanktion.

3. Reicht eine AU, um Sanktionen zu verhindern?
Nein. Jobcenter-Mitarbeitende zweifeln AUs häufig an oder verlangen Zusatzgutachten.

4. Was passiert im schlimmsten Fall?
Das Jobcenter streicht alle Leistungen – Bürgergeld, Miete, Krankenversicherung. Betroffene verlieren ihre Existenzgrundlage.

5. Wo bekomme ich Hilfe?
Beratungsstellen, Sozialverbände und Fachanwältinnen unterstützen beim Widerspruch und Härtefallverfahren.

Menschen mit psychischen Leiden unter Generalverdacht

Wer täglich darum kämpft, überhaupt aufzustehen, braucht keine Drohkulissen. Er braucht ein System, das Erkrankungen ernst nimmt – nicht eines, das sie anzweifelt. Die neue Grundsicherung baut ein System auf, das psychisch erkrankte Menschen unter Generalverdacht stellt.

Die Reform setzt auf Kontrolle statt Fürsorge und zwingt Betroffene, ihre Erkrankung fortlaufend zu beweisen – selbst in Momenten, in denen sie kaum handlungsfähig sind. Diese Logik greift ihre Menschenwürde an und raubt ihnen Vertrauen und Sicherheit. Während das System auf Kontrolle und Glaubwürdigkeitsprüfungen setzt, brauchen Erkrankte Schutz, Verlässlichkeit und niedrigschwellige Hilfe.

Die Vergangenheit zeigt, welche Folgen es hat, wenn ein Staat Menschen mit psychischen oder kognitiven Einschränkungen als weniger glaubwürdig oder weniger wert betrachtet. Ein modernes Sozialsystem muss aus dieser Geschichte lernen.

Es muss schützen, nicht misstrauen. Unterstützen, nicht bestrafen. Stabilität schaffen, nicht Angst. Solange die Reform diese Grundprinzipien missachtet, gefährdet sie genau jene Menschen, die den Sozialstaates am dringendsten brauchen.