Sozialamt muss 11.530 € für das selbst beschaffte Rollstuhlfahrrad als soziale Teilhabe zahlen. Damit gibt das Gericht endlich die veraltete Rechtsauffassung auf.
Ein Rollstuhlfahrrad fördert die soziale Teilhabe, indem es Menschen im Rollstuhl und ihren Begleitern gemeinsame Mobilität und Ausflüge ermöglicht, was das Gemeinschaftsgefühl stärkt und die Lebensqualität verbessert. Durch die Kombination von Rollstuhl und Fahrrad können sie selbstständig oder gemeinsam Ausflüge unternehmen, an sozialen Aktivitäten teilnehmen und so leichter in das gesellschaftliche Leben integriert werden.
Inhaltsverzeichnis
Kein Ausschluss familiärer Aktivitäten von der Eingliederungshilfe
Ein Schwerstbehinderter mit Pflegerad 5, welcher bei seinen Eltern lebt, hat Anspruch auf ein Rollstuhlfahrrad mit E-Antrieb im Rahmen der Förderung der Teilhabe zum Leben in der Gemeinschaft bei Intensivierung der familiärer Kontakte ( LSG NRW, Urteil vom 15.05.2025 – L 9 SO 177/24 – ).
Nutzt ein Schwerstbehinderter und seine Eltern das Rollstuhlstuhlrad nicht nur, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern es geht ihnen auch um das Radfahren und das damit verbundene Naturerlebnis an sich, ist dieses Bedürfnis vom Sozialamt im Rahmen der Eingliederungshilfe anzuerkennen.
Mit einem wirklich Hammer Urteil gibt der 9.Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ( LSG NRW, Urt. v. 15.05.2025 – L 9 SO 177/24 – ) bekannt, dass ein Schwerstbehinderter mit Pflegegrad 5 Anspruch auf Übernahme seiner Kosten für das selbst beschaffte Rollstuhlfahrrad mit E-Antrieb (Opair) durch den Sozialhilfeträger hat im Rahmen der Eingliederungshilfe ( §§ 113 Abs. 2 Nr. 8, 84 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ).
Leistungen zur sozialen Teilhabe umfassen – Hilfsmittel
Der Anspruch gegen die Behörde auf Zahlung der 11.530 € für die Anschaffung des Rollstuhlfahrrades ist – als sozialer Teilhabeanspruch nach §§ 113 Abs. 2 Nr. 8, 84 Abs. 1 Satz 1 SGB IX begründet. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe umfassen – Hilfsmittel -, die erforderlich sind, um eine durch die Behinderung bestehende Einschränkung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugleichen.
Das Rollstuhlfahrrad soll zum Behinderungsausgleich beitragen
Das Rollstuhlfahrrad soll die fehlende Fähigkeit des Klägers, aus eigener Kraft mobil zu sein, namentlich mit dem Fahrrad zu fahren, kompensieren und damit zum Behinderungsausgleich beitragen. Teilhabeziele, wie insbesondere Einkaufs-, Freizeit- und Besuchsfahrten, unterfallen denen der sozialen Teilhabe iSv § 113 Abs. 1 SGB IX.
Dazu gehören Leistungen zur selbstbestimmten Freizeitgestaltung, und zwar sowohl gemeinschaftliche Aktivitäten als auch individuelle Aktivitäten, seien sie sozial, sportlich, kulturell, kreativ, bildend oder rekreativ (BSG Urteil vom 12.12.2023 – B 8 SO 9/22 R).
Einkaufsfahrten oder regelmäßige Besuche von Verwandten können zur sozialen Teilhabe erforderlich sein
Zum Beispiel, wenn auf andere Art und Weise ein Erleben von üblichen gesellschaftlichen Kontakten mit Menschen außerhalb der Familie und das Erlernen von entsprechenden Umgangsformen und Verhaltensweisen nicht hinreichend möglich ist und die Fahrten gerade deshalb unternommen werden (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 24.04.2024 – L 12 SO 189/23 – ).
Die für das Rollstuhlfahrrad notwendigen Kosten sind behinderungsbedingt, denn ohne die Behinderung wäre der Kläger zur Vervollständigung seiner Mobilität im dargestellten Sinne nicht auf ein Rollstuhlfahrrad angewiesen.
Die Versorgung des Klägers mit dem Rollstuhlfahrrad ist notwendig iSv § 4 Abs. 1 SGB IX
In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein Mensch mit Behinderungen am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner angemessenen Wünsche (§ 104 Abs. 2 SGB IX) nach den Umständen des Einzelfalls (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R).
Maßstab für berechtigte, dh angemessene und den Gesetzeszwecken und -zielen entsprechende Wünsche (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) bzw. unverhältnismäßige Mehrkosten (§ 104 Abs. 2 Satz 2 SGB IX) sind die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen (BSG Urteil vom 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R).
Der Kläger bzw. seine Eltern haben sich für das Radfahren entschieden, um auf diese Weise an der Gesellschaft teilzuhaben. Dieser Wunsch ist angemessen, denn er entspricht einem weit verbreiteten Bedürfnis.
Nach der Rechtsprechung des BSG hat das Bewusstsein für die Bedeutung von ausreichender Bewegung für die allgemeine Gesundheit erheblich zugenommen, ist verbreitet als selbstverständlich anerkannt und findet – auch jenseits explizit sportlicher Betätigung – entsprechenden Ausdruck (BSG Urteil vom 18.04.2024 – B 3 KR 13/22 R).
Im Hinblick auf diese Verbreitung des Fahrradfahrens geht der Wunsch des Klägers nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen hinaus.
Verweis auf Fahrten mit dem vorhandenen PKW der Eltern unzumutbar
Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, die Fahrten mit dem vorhandenen PKW der Eltern und ggf. ergänzend mit dem Rollstuhl zurückzulegen. Der Transport mit dem Auto ist keine vergleichbare Leistung iSv § 104 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB IX. Der Kläger und seine Eltern nutzen das Rollstuhlstuhlrad nicht nur, um bestimmte Ziele zu erreichen, es geht ihnen auch um das Radfahren und das damit verbundene Naturerlebnis an sich.
Dieses Bedürfnis ist anzuerkennen.
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
1. Dieses Urteil ist wirklich zu begrüßen, denn der 9. Senat gibt endlich seine veraltete Rechtsauffassung auf, wonach galt: Keine Förderung der Teilhabe zum Leben in der Gemeinschaft bei Intensivierung der familiärer Kontakte – LSG NRW Az. L 9 SO 303/13).
2. Kein Ausschluss familiärer Aktivitäten von der Eingliederungshilfe – in diesem Sinne auch LSG NRW Az. L 12 SO 189/23 – und ganz aktuell BSG, Urteil vom 27.02.2025 – B 8 SO 10/23 R –
3. Es ist mir als Sozialrechtler aber auch gerade als Mensch immer wieder ein Bedürfnis solche Hammer – Entscheidungen bekannt zu geben, gerade, um Behinderten und Kranken, aber auch Vereinen und anderen sozialen Einrichtungen zu helfen.