Auch psychische Erkrankungen kรถnnen einen Grad der Behinderung (GdB) begrรผnden โ vom niedrigsten bis zum hรถchsten. Besonders ab einem GdB von 50 gelten dann zahlreiche Sonderregelungen, um Nachteile auszugleichen. Entscheidend ist immer, wie stark die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeintrรคchtigt ist, nicht die Diagnose allein.
Inhaltsverzeichnis
Es kommt auf den Einzelfall an
Gerade bei Behinderungen mit psychischer Ursache kommt es stark auf den Einzelfall an. Die Versorgungsmedizin liefert Anhaltswerte zur Einordnung, starre Schemata gibt es aber nicht. Betroffene ringen daher nicht selten vor den Sozialgerichten um eine hรถhere Einstufung, als die zustรคndige Behรถrde zunรคchst festsetzt.
Rechtsgrundlagen: Was gilt?
Das Sozialgesetzbuch IX stellt klar: Auch seelische Beeintrรคchtigungen kรถnnen eine Behinderung sein, wenn sie voraussichtlich lรคnger als sechs Monate die gleichberechtigte Teilhabe verhindern. Die Feststellung des GdB regelt ยง 152 SGB IX.
Bewertet wird nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), Anlage โVersorgungsmedizinische Grundsรคtzeโ. Zustรคndig ist die nach Landesrecht bestimmte Feststellungsbehรถrde (oft โVersorgungsamtโ bzw. Landesamt fรผr Soziales).
Wichtig: Behรถrdlich festgestellt wird ein GdB erst ab 20. Leichtere Beeintrรคchtigungen kรถnnen zwar versorgungsmedizinisch mit 0โ20 โbewertetโ werden, einen Bescheid gibt es aber frรผhestens ab GdB 20.
Entscheidend sind die Auswirkungen โ nicht die Diagnose
Eine psychische Erkrankung kann eine Behinderung begrรผnden. Maรgeblich ist, wie stark die Folgen der Erkrankung die Teilhabe im Alltag einschrรคnken (Arbeit, Lernen, Kommunikation, Orientierung, Selbstversorgung, soziale Kontakte).
Wie schrรคnken psychische Erkrankungen ein?
Einschrรคnkungen kรถnnen von gering bis erheblich reichen: Antriebsminderung oder Hyperaktivitรคt, Angst- und Erstickungsgefรผhle, Schlafstรถrungen, Konzentrationsprobleme, ausgeprรคgte Schuldgefรผhle, Verfolgungswahn, Benommenheit, fehlendes Selbstwertgefรผhl, Interessenverlust, bis hin zu Selbst- oder Fremdgefรคhrdung.
Welche Krankheiten nennt die Versorgungsmedizin?
Die VersMedV listet unter โNervensystem und Psycheโ u. a. Persรถnlichkeitsstรถrungen (z. B. emotional instabile/Borderline, paranoide), psychotische Stรถrungen, Angststรถrungen, Depressionen, bipolare Stรถrungen, Zwangs- und Anpassungsstรถrungen. Die Liste ist nicht abschlieรend โ entscheidend bleibt die Auswirkung.
GdB-Stufen bei psychischen Stรถrungen (Anhaltswerte der VersMedV)
Leichte Stรถrungen: 0โ20
Stรคrker behindernde Stรถrungen (z. B. ausgeprรคgte Depressionen, schwere Phobien/Hypochondrie) mit deutlichen Alltagsproblemen: 30โ40
Schwere Stรถrungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 50โ70
Schwere Stรถrungen mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 80โ100
In den hรถheren Stufen stehen typischerweise massive Probleme der sozialen und beruflichen Anpassung im Vordergrund (z. B. anhaltende Psychosen, schwere therapieresistente Depressionen). Hรคufig liegen bereits psychiatrische Behandlungen, Psychotherapien und teils stationรคre Aufenthalte vor.
Gleichstellung bei GdB 30/40: wichtiger Schutz im Job
Wer โnurโ GdB 30 oder 40 hat, kann sich bei der Agentur fรผr Arbeit gleichstellen lassen, wenn sonst der Arbeitsplatz gefรคhrdet ist oder eine Einstellung scheitert.
Gleichgestellte genieรen u. a. besonderen Kรผndigungsschutz und werden schwerbehinderten Menschen arbeitsrechtlich weitgehend gleichgestellt โ ohne dass die Schwerbehinderteneigenschaft im รbrigen vorliegt.
Nachteilsausgleiche ab GdB 50 (Schwerbehinderteneigenschaft)
Mit GdB 50 gilt man als schwerbehinderter Mensch. Damit verbunden sind zahlreiche Rechte; vieles hรคngt zusรคtzlich von Merkzeichen ab (siehe unten).
Bereich | Wichtige Nachteilsausgleiche ab GdB 50 |
Arbeitsrecht | Besonderer Kรผndigungsschutz (Zustimmung Integrationsamt), Zusatzurlaub (idR 5 Tage/Jahr bei Vollzeit), Anspruch auf behinderungsgerechte Beschรคftigung/Arbeitsplatzgestaltung |
Steuern | Behinderten-Pauschbetrag (Hรถhe staffelt sich nach GdB) |
Mobilitรคt/รPNV | Ermรครigungen/Unentgeltliche Befรถrderung bei passenden Merkzeichen (G/B/aG/H/Bl/Gl) |
Rente | Zugang zur Altersrente fรผr schwerbehinderte Menschen (bei Vorliegen der รผbrigen Voraussetzungen) |
Sonstiges | Parkerleichterungen, Rundfunkbeitrags-Ermรครigung/-Befreiung (RF), vorrangige Reha-Leistungen etc. โ je nach Merkzeichen |
Merkzeichen entscheiden mit
Viele Vorteile hรคngen nicht nur am GdB, sondern an Merkzeichen, die zusรคtzliche Bedarfe abbilden:
Merkzeichen | Was es bedeutet / typischer Vorteil |
G | erhebliche Gehbehinderung โ รPNV-Ermรครigung/Freifahrt (mit Wertmarke) |
aG | auรergewรถhnliche Gehbehinderung โ Parkerleichterungen, hรถhere Mobilitรคtsvorteile |
B | stรคndige Begleitung nรถtig โ kostenfreie Mitnahme einer Begleitperson |
H | Hilflosigkeit โ erhรถhter Steuer-Pauschbetrag, รPNV-Freifahrt |
Bl | blind โ unentgeltliche Befรถrderung, erhรถhte Pauschbetrรคge |
Gl | gehรถrlos โ Nachteilsausgleiche im รPNV/Steuerbereich |
RF | Ermรครigung/Befreiung vom Rundfunkbeitrag (sofern Voraussetzungen erfรผllt) |
Verfahren, Unterlagen & BEM: Was ist zu beachten?
Der Antrag auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) wird bei der jeweils zustรคndigen Feststellungsbehรถrde gestellt, deren Bezeichnung je nach Bundesland variiert.
Zwar gilt der Amtsermittlungsgrundsatz und die Behรถrde klรคrt den Sachverhalt von sich aus, in der Praxis sind jedoch aktuelle fachรคrztliche Befunde sowie Therapie- und Klinikberichte entscheidend, damit die tatsรคchlichen Teilhabeeinschrรคnkungen realistisch abgebildet werden.
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist kein GdB-abhรคngiger Vorteil, sondern vom Arbeitgeber anzubieten, sobald Beschรคftigte innerhalb eines Jahres lรคnger als sechs Wochen arbeitsunfรคhig sind โ unabhรคngig davon, ob ein GdB oder die Schwerbehinderteneigenschaft vorliegt.
Widerspruch und Klage: Fristen kennen โ Rechte nutzen
Die Behรถrde liegt nicht immer richtig. Widersprรผche und Klagen sind hรคufig erfolgreich, wenn Befunde nachgereicht oder Gutachten prรคzisieren.
Widerspruch: innerhalb 1 Monats nach Bekanntgabe des Bescheids.
Klage (beim Sozialgericht): ebenfalls 1 Monat nach Widerspruchsbescheid.
Ausnahme: 3 Monate, wenn die Bekanntgabe im Ausland erfolgt.
Wer die Fristen wahrt und medizinisch nachlegt, verbessert seine Chancen deutlich.
Realitรคt vs. Theorie
In der Praxis widersprechen sich Atteste, Symptome schwanken, Gutachten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Gerade deshalb lohnt es sich, Behandlungsverlรคufe sauber zu dokumentieren, Angehรถrigenberichte beizufรผgen und auf Alltagsauswirkungen (Arbeitsfรคhigkeit, Tagesstruktur, soziale Interaktion) konkret einzugehen.