Ein an Multipler Sklerose erkrankter Mann wollte sich ambulant in einer eigenen Wohnung pflegen lassen statt in ein Pflegeheim zu ziehen. Doch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen lehnte sein Begehren ebenso ab wie zuvor das Sozialgericht Stade. Die Begründung der Gerichte war aufschlussreich. (L 8 SO 166/12)
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Grad der Behinderung von 90
Der Betroffene ist 1961 geboren und leidet seit vielen Jahren an einer rechtsseitigen Halbseitenlähmung nach zwei Herzinfarkten und zudem an schnell fortschreitender Multipler Sklerose. Dazu gehören vollständige Inkontinenz und schwere Spasmen. Er kann weder gehen noch stehen und ist bewegungsunfähig. Am Steiß hat er einen Dekubitus.
Sein anerkannter Grad der Behinderung beträgt 90 mit den Merkzeichen B. G und aG. Hinzu kommt Nierenschwäche, Diabetes mellitus Typ 2 und starkes Übergewicht. Er bewegt sich mittels eines elektrischen Rollstuhls.
Ambulante Pflege statt vollstationäre Dauerpflege
Der Betroffene lebte vollstationär in einem Pflegeheim in einem individuell gestalteten Einzelzimmer mit eigenem Bad. Neben Senioren sind auch einige jüngere Menschen im Heim untergebracht, die ebenfalls an MS erkrankt sind. Zu diesen wünschte er jedoch keinen Kontakt.
Der Kläger begehrte die Zusicherung zur Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form ambulanter Pflege in häuslicher Umgebung anstelle einer vollstationären Dauerpflege. Er hatte eine Tochter, die in Hamburg lebte. Laut einem Gutachten zur Einschätzung der Pflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch XII war er regelmäßig auf Fremdhilfe angewiesen, und dies bei allen Verrichtungen der Grundpflege.
Betroffener will in Wohnung ziehen
Er beantragte Hilfe zur Pflege in Form ambulanter Leistungen und wollte das Pflegeheim verlassen, um zusammen mit Bekannten eine Wohnung anzumieten. Im Gespräch mit einer Pflegekraft erklärte er, das Leben im Heim sei „unwürdig, und er wolle eigenständig leben. Über die konkreten Zustände im Heim beschwerte er sich jedoch ausdrücklich nicht, sondern sagte, er erhoffe sich durch eine eigene Wohnung mehr Selbstständigkeit und häufigere Besuche seiner Tochter.
Pflegekraft schätzt Pflegeaufwand als enorm ein
Die Pflegekraft schätzte, dass die häusliche Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst geleistet werden müsste. Die Kosten seien erheblich teurer als im Heim, denn die bei Bedarf abzurechnenden Positionen würden zumindest zweimal täglich anfallen. Die zuständige Sozialbehörde lehnte daraufhin den Antrag ab.
Ambulante Pflege bringt nicht mehr Selbstständigkeit
Sie begründete dies damit, dass das Weiterführen der stationären Hilfe zumutbar sei. Da er bei allen Verrichtungen auf Fremdhilfe angewiesen sei, könne er aufgrund seines Krankheitsbildes durch ambulante Maßnahmen kein höheres Maß an Selbstständigkeit erreichen. Der ambulante Pflegeaufwand sei vermutlich um mehrere hundert Euro höher als bei der Heimunterbringung.
Freundin soll Hauswirtschaft übernehmen
Er legte Widerspruch ein, bezweifelte darin, dass die ambulante Pflege deutlich höher sei als die vollstationäre Unterbringung und gab an, dass er mit seiner Freundin und deren Tochter eine Wohngemeinschaft bilden wolle, und seine Freundin würde die hauswirtschaftliche Versorgung übernehmen. Damit falle ein Teil des Pflegeaufwands weg.
Behörde weist Widerspruch zurück
Die Behörde wies den Widerspruch als unbegründet zurück, da die Unterbringung im Heim zumutbar sei. Er habe angegeben, mit der Pflege im Heim zufrieden zu sein und sich gut mit dem Pflegepersonal zu verstehen.
Seine Freunde könnten ihn besuchen, und seine Tochter könnte im Heim auch übernachten. Er könne selbst bestimmen, wann er kommen und wann er gehen wolle.
Ambulante Pflege würde Betroffenen einschränken
Es sei zu erwarten, dass ein Wechsel in eine eigene Wohnung ihn einschränke, da er abhängig vom Pflegedienst sei und im Notfall auf dessen Ankunft warten müsse. Die Kosten für die ambulante Pflege seien rund doppelt so teuer, und es gebe eine keine ersichtlichen Gründe, die diese Mehrbelastung ausnahmsweise angemessen erscheinen ließen.
Klage vor dem Sozialgericht
Der Pflegebedürftige klagte vor dem Sozialgericht Otterndorf, um seine Ansprüche durchzusetzen, und die Angelegenheit wurde vor dem Sozialgericht Stade verhandelt. Er argumentierte, ambulante seien vor stationären Leistungen zu erbringen.
Freies und eigenständiges Leben
Er wolle eigenständig und freibestimmt leben und empfinde die Unterbringung in einem Pflegeheim als Freiheitsentzug. Die Sozialbehörde hielt dem entgegen, dass die ambulante Pflege mit 6.500 Euro pro Monat wesentlich höher sei als die stationäre Pflege.
Sozialgericht weist die Klage ab
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Es sei nicht zu verantworten, den Betroffenen aus der Dauerpflege zu entlassen. In der häuslichen Umgebung sei die aus medizinischer Sicht erforderliche Pflege nicht optimal möglich, im Pflegeheim sei dies jedoch der Fall.
Freunde können keine Pflege gewährleisten
Eine Wohngemeinschaft mit Freunden gewährleiste keine verlässliche Einsatzbereitschaft zur Durchführung der Pflege. Es sei unsicher, ob sich die Freunde bewusst seien, welchen Umfang der erhebliche Pflegebedarf rund um die Uhr habe.
Dem Betroffenen ist seine Hilflosigkeit nicht bewusst
Die Richter verwiesen zudem auf ein Gutachten, demzufolge der Betroffenen nicht in vollem Umfang zur Kenntnis nehme, dass er fast vollständig hilflos sei. Es sei nicht anzunehmen, dass häusliche Pflege seine Teilhabe an der Gesellschaft verbessern könne. Dem stehe sein Gesundheitszustand entgegen. Dieser habe sich eher verschlechtert als verbessert. Er könne zum Beispiel nicht mehr allein trinken.
Wunsch nach Selbstbestimmung hat ein hohes Gewicht
Seinem Wunsch nach einem eigenständigen und frei bestimmten Leben komme ein hohes Gewicht zu. Allerdings müsste dabei auch die individuellen Umstände berücksichtigt werden. Es sei nachvollziehbar, dass er als ehemaliger Biker nicht gewohnt sei, in einem Pflegeheim zu leben.
Privatsphäre ist vorhanden
Er habe jedoch ein eigenes Zimmer mit eigener Einrichtung, Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre, könne die Mahlzeiten in seinem Zimmer einnehmen. Er bestimmte selbst, wann er aufstehe und wann er zu Bett gehe. Es sei auch nicht nachvollziehen, dass er durch das Leben im Heim seine sozialen Kontakte verliere. So empfange er Besuch und dieser könne auch jederzeit kommen.
Rund um die Uhr von der Hilfe Dritter abhängig
Sein Krankheitsbild ließe nicht erwarten, dass er durch eine eigene Wohnung persönliche Freiheiten gewinnen könne. Auch ambulant wäre er umfassend auf die Hilfe Dritter angewiesen. Er können nur noch beim Zähneputzen und Frühstücken mitwirken.
Wegen seiner umfassenden Pflegebelange erscheine eine ambulante Pflege als nicht geeignet.
Ganzheitliche Versorgung ist ambulant nicht möglich
Dies gelte besonders, weil seine Fähigkeit stark eingeschränkt sei, Schmerzen und Verletzungen wahrzunehmen. Die deshalb nötige ganzheitliche Versorgung könne ein ambulanter Pflegedienst nicht leisten und auch Mitbewohner könnten ihn nicht sicherstellen.
Berufung vorn dem Landessozialgericht scheitert
Der Betroffene legte vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Berufung ein. Auch diese scheiterte. Die Richter hielten die Begründung er ersten Instanz in allen Punkten für zutreffend. Damit kam eine ambulante Versorgung in einer eigenen Wohnung für den Mann nicht in Frage.