Rentenfalle bei Witwenrente: Mehr Anerkennung und dennoch weniger im Portemonnaie

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Am 3. Juli 2025 hat das Bundesministerium fรผr Arbeit und Soziales den โ€žEntwurf eines Gesetzes zur Stabilisierung des Rentenniveaus und zur vollstรคndigen Gleichstellung der Kindererziehungszeitenโ€œ vorgestellt.

Hinter dem sperrigen Titel steht eine weitreichende sozialpolitische Weichenstellung, im รถffentlichen Diskurs verkรผrzt als โ€žMรผtterrente 3โ€œ. Fรผr alle Kinder โ€“ unabhรคngig vom Geburtsjahr โ€“ sollen kรผnftig 36 Kalendermonate Kindererziehungszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zรคhlen. Damit wรผrde die letzte Lรผcke zwischen vor 1992 geborenen und spรคter geborenen Kindern geschlossen.

Nach offiziellen Angaben profitieren rechnerisch rund zehn Millionen Mรผtter. In Kraft treten soll die Neuregelung zum 1. Januar 2027; die technische Umsetzung in den Rentenbestรคnden erfolgt allerdings erst 2028, dann rรผckwirkend. Genau hier beginnt die Schattenseite der Reform.

Gleichstellung bei den Erziehungszeiten

Kindererziehungszeiten sind ein Herzstรผck der Anerkennung familiรคrer Sorgearbeit im Rentenrecht. รœber Jahre wurden Mรผtter โ€“ und in Einzelfรคllen Vรคter โ€“ ungleich behandelt, je nachdem, ob die Kinder vor oder nach 1992 zur Welt kamen. Schrittweise Reformen (โ€žMรผtterrente Iโ€œ 2014, โ€žMรผtterrente IIโ€œ 2019) verbesserten die Anrechnung fรผr vor 1992 geborene Kinder, ohne die vollstรคndige Gleichstellung herzustellen.

Die โ€žMรผtterrente 3โ€œ setzt nun den Schlusspunkt dieser Entwicklung: drei volle Jahre pro Kind, fรผr alle Jahrgรคnge. Politisch ist das ein starkes Signal fรผr Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen; finanziell bedeutet es zusรคtzliche Entgeltpunkte, die das persรถnliche Rentenkonto vieler Frauen sichtbar aufwerten.

Der Zeitplan: Rechtskraft 2027, Geldfluss 2028

Formell sollen die neuen Ansprรผche am 1. Januar 2027 entstehen. In der Praxis werden die Rentenversicherungstrรคger die massenhafte Neuberechnung nicht sofort im Einzelfall erledigen kรถnnen. Deshalb ist vorgesehen, die Erhรถhungen in Bestandsfรคllen im Jahr 2028 maschinell nachzuziehen und dann rรผckwirkend auszuzahlen.

Fรผr Neurentnerinnen ab dem Stichtag 1. Januar 2027 sollen die 36 Monate je Kind von Beginn an automatisch berรผcksichtigt werden, ein Antrag ist nicht erforderlich. Bestandsrentnerinnen mit Rentenbeginn vor diesem Datum erhalten pauschal je Kind einen Zuschlag in Form von Entgeltpunkten; auch dafรผr ist kein Antrag nรถtig.

Was als Verwaltungsvereinfachung sinnvoll erscheint, entfaltet bei der Hinterbliebenenversorgung fรผr viele eine รผberraschende Nebenwirkung.

Wie aus Pluspunkten Minus wird: der Mechanismus der Anrechnung

Die Witwen- oder Witwerrente ist eine abgeleitete Leistung. Sie orientiert sich an der Rente des Verstorbenen, wird aber auf das eigene Einkommen der Hinterbliebenen angerechnet. Rechtlich maรŸgeblich ist die Einkommensanrechnung auf Renten wegen Todes.

Vereinfacht gilt: Eigene Renten und bestimmte andere Einkรผnfte der Hinterbliebenen werden oberhalb eines Freibetrags teilweise angerechnet, wodurch die Witwenrente sinkt. Steigt nun die eigene Rente der Hinterbliebenen โ€“ etwa durch zusรคtzliche Entgeltpunkte aus der โ€žMรผtterrente 3โ€œ โ€“ erhรถht sich das anrechenbare Einkommen. Das Ergebnis ist eine Kรผrzung der Witwenrente.

Der Effekt kann moderat oder deutlich ausfallen, je nach Hรถhe der eigenen Rente, der individuellen Freibetrรคge und der bisherigen Berechnungsgrundlage.

Fรผr viele Betroffene zeigt sich das erst im Bescheid: Aus einem gut gemeinten Plus bei der eigenen Alters- oder Erwerbsminderungsrente wird unterm Strich ein Minus bei der Hinterbliebenenrente.

Was die Anrechnung in der Praxis bedeutet

In der Praxis verlรคuft die Minderung nicht als โ€žAlles-oder-nichtsโ€œ-Kรผrzung, sondern proportional. รœberschreitet das eigene Einkommen den jeweils geltenden Freibetrag, wird ein Teil des darรผberliegenden Betrags auf die Witwenrente angerechnet. Wer bereits heute knapp รผber dem Freibetrag liegt, spรผrt zusรคtzliche Entgeltpunkte besonders deutlich.

Ein typischer Verlauf sieht so aus: Mit der Gutschrift der Erziehungszeiten steigt die eigene Monatsrente, zugleich reduziert die Rentenversicherung die Witwenrente. Bei der 2028 vorgesehenen maschinellen Umsetzung kommt hinzu, dass die Verรคnderung rรผckwirkend gilt.

Mรถglich sind Nachzahlungen bei der eigenen Rente, aber auch rรผckwirkende Verrechnungen mit der Witwenrente. Das sorgt nicht nur fรผr niedrigere laufende Leistungen, sondern kann โ€“ je nach Konstellation โ€“ auch zu Verrechnungen mit bereits geflossenen Betrรคgen fรผhren.

Grundsicherung im Alter: Hรถheres Renteneinkommen, niedrigere Sozialleistung

ร„hnlich wirkt die Reform bei der Grundsicherung im Alter. Diese Sozialleistung sichert den notwendigen Lebensunterhalt, wenn Renten und รผbriges Einkommen nicht ausreichen. Steigt die eigene Rente durch zusรคtzliche Erziehungszeiten, erhรถht sich das anrechenbare Einkommen. In vielen Fรคllen sinkt die Grundsicherungsleistung entsprechend.

Je nach individueller Lage kรถnnen zwar Freibetrรคge oder besondere Regeln โ€“ etwa im Umfeld der Grundrente โ€“ Teile der Rente von der Anrechnung ausnehmen.

Fรผr zahlreiche Betroffene bleibt der Grundmechanismus jedoch bestehen: Jeder zusรคtzliche Euro an gesetzlicher Rente drรผckt die bedarfsgeprรผfte Leistung. Fรผr Frauen, die sowohl eine Witwenrente beziehen als auch auf Grundsicherung angewiesen sind, kann so ein doppelter Dรคmpfer entstehen.

Neurentnerinnen und Bestandsrentnerinnen: Zwei Wege, ein Risiko

Fรผr Neurentnerinnen ab dem 1. Januar 2027 wird die Erhรถhung elegant in das regulรคre Verfahren eingebettet. Die 36 Monate pro Kind erscheinen unmittelbar in der Rentenberechnung, die Einkommensanrechnung auf eine eventuell bestehende Witwenrente erfolgt nahtlos.

In Bestandsfรคllen erfolgt 2028 die pauschale Gutschrift von Entgeltpunkten je Kind maschinell. Auch hier greift anschlieรŸend automatisch die Einkommensanrechnung.

Die Rentenversicherung muss beide Strรคnge konsistent abbilden, was aus Sicht der Betroffenen vor allem eines bedeutet: Die Anpassung kommt, selbst wenn kein Antrag gestellt wurde, und sie kommt mit allen Wechselwirkungen.

Beispielhafte Wirkungskette ohne Schรถnfรคrberei

Wer bereits heute eine eigene Altersrente und zusรคtzlich eine Witwenrente bezieht, sieht nach der Gutschrift der Erziehungszeiten zunรคchst eine hรถhere eigene Zahlung. Liegt das Gesamteinkommen dadurch weiter oder erstmals รผber dem Freibetrag, mindert sich die Witwenrente anteilig.

Der zusรคtzliche Euro ist damit nicht โ€žverlorenโ€œ, aber er kommt nicht in voller Hรถhe im Geldbeutel an. Bei gleichzeitiger Grundsicherung fรคllt der Effekt deutlicher aus: Das Mehr an Rente senkt die Sozialleistung fast in gleicher Richtung, sofern keine begรผnstigenden Freibetrรคge greifen. In Summe kann aus dem politisch kommunizierten Fortschritt eine gefรผhlte Stagnation oder gar ein Minus werden.

Rechtliche Verankerung und technische Umsetzung

Die Reform verankert die Gleichstellung der Kindererziehungszeiten in den einschlรคgigen Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch. Die Verwaltung setzt diese ร„nderungen stufenweise um und rechnet Bestandsrenten ab 2028 automatisiert neu.

Das Verfahren ist aus Sicht der Trรคger unausweichlich, weil Millionen Einzelfรคlle geprรผft werden mรผssen. Fรผr Betroffene ist entscheidend, die Logik der Anrechnung zu verstehen: Zusรคtzliche Entgeltpunkte erhรถhen das eigene, anrechenbare Einkommen.

Dieses hรถhere Einkommen kann die Hinterbliebenenrente mindern und die Grundsicherung reduzieren. Die Reform รคndert also zwei Stellschrauben gleichzeitig โ€“ sie hebt das individuelle Rentenniveau an und verschiebt die Balance bei bedarfs- oder einkommensabhรคngigen Leistungen.

Wer besonders betroffen ist

Besonders ins Risiko geraten Frauen mit niedriger bis mittlerer eigener Altersrente, die auf eine Witwenrente angewiesen sind, sowie Rentnerinnen, deren Budget ohne Grundsicherung nicht ausreicht.

Wer knapp oberhalb der Freibetrรคge liegt, erlebt die stรคrkste relative Wirkung. Auch Haushalte, in denen kleine Verรคnderungen groรŸe Auswirkungen auf Wohngeld, Krankenversicherungszuschรผsse oder andere flankierende Leistungen haben, sollten aufmerksam prรผfen.

Die rรผckwirkende Umsetzung 2028 erhรถht zudem die Komplexitรคt, weil Nachzahlungen und Verrechnungen in beide Richtungen mรถglich sind.

Was Betroffene jetzt tun sollten

Betroffene sollten frรผhzeitig Transparenz herstellen. Sinnvoll ist eine aktuelle Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung und โ€“ falls eine Witwenrente bezogen wird โ€“ ein Blick in die Berechnungsanlage zur Einkommensanrechnung.

Wer Grundsicherung erhรคlt, sollte mit dem zustรคndigen Sozialamt klรคren, wie ein kรผnftiger Rentenzuwachs dort berรผcksichtigt wird und ob Freibetrรคge in Betracht kommen. E

ine individuelle Beratung durch Rentenversicherung, Versichertenรคlteste oder unabhรคngige Sozialberatungen hilft, รœberraschungen zu vermeiden und Rรผcklagen fรผr mรถgliche Verrechnungen einzuplanen. Auch lohnt es sich, Verwaltungsakte nach der Umstellung grรผndlich zu prรผfen und bei Unklarheiten Widerspruchsfristen im Blick zu behalten.

Fazit: Mehr Anerkennung โ€“ und dennoch weniger im Portemonnaie

Die โ€žMรผtterrente 3โ€œ schlieรŸt eine Gerechtigkeitslรผcke und erhรถht die eigene Rente vieler Mรผtter. Fรผr eine groรŸe Gruppe von Witwen und Grundsicherungsbezieherinnen kann die Reform zugleich zur Rentenfalle werden, weil die Anrechnungssysteme an anderer Stelle kรผrzen.

Ab 2028 wird sich das in den Auszahlungen bemerkbar machen, rรผckwirkend und vielfach ohne Antrag. Wer betroffen sein kรถnnte, sollte seine Unterlagen prรผfen, Beratung suchen und die eigene Situation durchrechnen lassen. Die entscheidende Frage, ob die Reform am Ende mehr nรผtzt als schadet, bleibt damit weniger eine Grundsatz- als eine Umsetzungsfrage: Sie entscheidet sich an den Schnittstellen zwischen Anerkennung, Anrechnung und Administration.