Schwerbehinderung: Wegweisendes Urteil – Merkzeichen endet nach Therapie

Ein Grad der Behinderung wird nur selten unbefristet festgestellt. Genauer: Die Feststellung des GdB ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung; regelmรครŸig befristet ist der Schwerbehindertenausweis (ยง 152 Abs. 5 SGB IX). Eine Nachprรผfung kann bei โ€žwesentlicher ร„nderungโ€œ jederzeit erfolgen (ยง 48 SGB X). Bei Ursachen fรผr die Behinderung, die grundsรคtzlich heilbar sind, ist die Feststellung fast immer befristet.

Bei Krebserkrankungen gilt die sogenannte Heilungsbewรคhrung. Sie betrรคgt in der Regel fรผnf Jahre (tumorabhรคngig), Nach einer bestimmten Zeitspanne erfolgt eine Nachprรผfung, um den Grad der Behinderung und die Merkzeichen erneut festzustellen.

In einem konkreten Fall bestรคtigte das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt die Entziehung des Merkzeichens H fรผr Hilflosigkeit einer Krebspatientin. (L 7 SB 60/10)

Entfernung des linken Auges wegen eines Tumors

Die Betroffene hatte im Alter von drei Jahren einen Grad der Behinderung von 80 festgestellt bekommen. Die gesetzliche Vertreterin hatte zudem das Merkzeichen G fรผr eine erhebliche Beeintrรคchtigung im StraรŸenverkehr beantragt, und ebenso das Merkzeichen B fรผr eine stรคndige Begleitung sowie das Merkzeichen H fรผr Hilflosigkeit. Begrรผndet war dies mit einer bรถsartigen Netzhautgeschwulst, wegen der dem Mรคdchen das linke Auge hatte entfernt werden mรผssen.

Lediglich Merkzeichen H ist gerechtfertigt

Der zustรคndige Versorgungsarzt sah auรŸer einem Grad der Behinderung von 80 lediglich das Merkzeichen H gerechtfertigt, typischerweise fรผr die Dauer der intensiven onkologischen Behandlung (z. B. Chemotherapie) und nicht fรผr die gesamte Heilungsbewรคhrung, und auch dieses nur fรผr die Dauer der Chemotherapie der Krebserkrankung.

Der Bescheid des zustรคndigen Versorgungsamtes informierte รผber den Grad der Behinderung von 80 sowie das Merkzeichen H, allerdings ohne das Merkzeichen zu begrรผnden.

Widerspruch und Forderung nach einem Behindertenparkplatz

Die gesetzliche Vertreterin legte Widerspruch ein und forderte die Anerkennung der Merkzeichen B und G sowie einen Grad der Behinderung von 100. AuรŸerdem habe die Betroffene Anspruch auf einen Behindertenparkplatz. Den letzten Punkt wertete die zustรคndige Behรถrde als neuen Antrag auf Feststellung des Merkzeichens aG fรผr auรŸergewรถhnlich gehbehindert und lehnte diesen mit einem neuen Bescheid ab.

Hinweis: Parkerleichterungen (blauer EU-Parkausweis) setzen regelmรครŸig das Merkzeichen aG oder Bl voraus; G/B genรผgen nicht.

Entziehung des Merkzeichens nach der Chemotherapie

Nach der Chemotherapie sah die zustรคndige Behรถrde die Unterlagen des behandelnden Universitรคtsklinikums ein. Demnach war die Chemotherapie erfolgreich verlaufen, die Augenprothese sรครŸe gut, und es gebe keine neuen Anzeichen fรผr Tumore. Der Vertragsarzt der Behรถrde hielt die Voraussetzungen fรผr das Merkzeichen H nicht mehr fรผr erfรผllt.

Heilungsbewรคhrung ist noch nicht abgeschlossen

Der gesetzlichen Vertreterin der Betroffenen erklรคrte die Behรถrde, dass das Merkzeichen H entzogen wรผrde, weil die Chemotherapie beendet sei. Die Klรคgerin lehnte dies ab und argumentierte, die Heilungsbewรคhrung sei noch nicht abgeschlossen. Das Gericht stellte klar: Die Heilungsbewรคhrung rechtfertigt nicht automatisch das Merkzeichen H; maรŸgeblich ist der fortbestehende Hilfebedarf bei den in den Versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen (VMG) benannten Verrichtungen.

Per Bescheid entzog die Behรถrde das Merkzeichen H. Rechtsgrundlage: ร„nderung wegen wesentlicher Verbesserung (ยง 48 SGB X).

Klรคgerin verlangt Gutachten von Augenarzt

Die Klรคgerin legte Widerspruch ein, erklรคrte die Voraussetzungen fรผr das Merkzeichen seien nach wie vor gegeben und verlangte eine รœberprรผfung durch einen Facharzt fรผr Augenheilkunde und Onkologie. Die zustรคndige Behรถrde hob hingegen den letzten Bescheid auf und erklรคrte, die Voraussetzungen fรผr das Merkzeichen B und H seien nicht mehr gegeben.

Grad der Behinderung von 100 und Merkzeichen sind normal

Die gesetzliche Vertreterin klagte vor dem Sozialgericht Magdeburg, um ihre Ansprรผche durchzusetzen. Sie bemรคngelte, dass den Bescheiden der Behรถrde eine Erklรคrung fehlte, warum das Merkzeichen H nur wรคhrend der Chemotherapie gelte und nicht wรคhrend der gesamten Erkrankung.

Die Bezugnahme auf โ€žรผblicheโ€œ Zuerkennungen (GdB 100 samt H/B) bei anderen Kindern ist fรผr die Entscheidung unerheblich; maรŸgeblich bleibt die Einzelfallprรผfung nach VMG. Andere Versorgungsรคmter wรผrden vergleichbar betroffenen Kindern regelmรครŸig einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen H und B zuerkennen.

Wesentliche Verรคnderungen

Die Richter wiesen die Klage ab. Die Voraussetzungen fรผr das Merkzeichen H wรผrden nicht mehr vorliegen, da die Chemotherapie beendet sei. Die fehlende Begrรผndung im anfรคnglichen Bescheid sei rechtlich folgenlos. Der formelle Mangel wurde nachgeholt; eine fehlende Begrรผndung kann geheilt werden (ยง 41 SGB X).

Denn die Behรถrde hรคtte die fehlende Begrรผndung nachgeholt, nรคmlich die Zuerkennung des Merkzeichens wegen der durchgefรผhrten Chemotherapie. Die Behรถrde hรคtte das Merkmal aktuell nicht mehr feststellen kรถnnen, und damit wรผrde es zu Recht entzogen.

Der gesonderte Hilfebedarf der Betroffenen beschrรคnke sich auf bestimmte Hygieneerfordernisse, entspreche jedoch nicht den fรผr das Merkzeichen H beschriebenen alltรคglichen Verrichtungen in dem dort geltenden Umfang. Fรผr G oder aG lagen ebenfalls nicht die notwendigen Voraussetzungen vor; die Ablehnung des Parksonderrechts war daher konsequent.