Materielles Elend plus prima Qualifikation

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Materielles Elend plus prima Qualifikation: Zur neoliberalen Propaganda mithilfe des „Bildungs“-Begriffs von Holdger Platta

28.07.2013

In Göttingen kursiert seit längerer Zeit ein Witz: wenn man in ein Taxi steige, solle man den Fahrer oder die Fahrerin auf jeden Fall mit Herr oder Frau „Doktor“ begrüßen. Grund: die massenhafte Akademikerarbeitslosigkeit in dieser Universitätsstadt. Und wenn man die – zumeist jüngeren – Hochschulabsolventinnen dieser Tage hinzunimmt, könnte man ergänzen: „Generation Praktikum“ läßt grüßen. Diese NachwuchswissenschaftlerInnen könnten Endlos-Geschichten erzählen über ihre Weiterqualifikationen, über den Zusatzerwerb von Fertigkeiten und Kenntnissen, die beruflich allesamt nichts bringen. „Planungssicherheit“ fürs eigene Leben: Fehlanzeige! „Fortbildung“ im Sinne von „Wegbildung“ wäre zutreffender ausgedrückt.

Dennoch: spätestens seit der Rede von Frau Merkel am 17. September 2008 – das war noch zu Zeiten der Großen Koalition – hat sich folgende Propaganda in den Köpfen sehr vieler Menschen durchgesetzt: „Wohlstand für alle“, das bedeute doch vor allem „Bildung für alle“. Die Bundeskanzlerin damals, am 17. September, vor dem Deutschen Bundestag wörtlich: „Die Bildungsrepublik ist der beste Sozialstaat.“ (beide Zitate nach Göttinger Tageblatt vom 18.9.2008, S.4). Ja, ist das nicht prima? – Nein, ganz im Gegenteil, das ist gar nicht prima! Ich erläutere:

Diese – immer noch aktuelle – Propaganda der Frau Merkel ging gleich von zwei Unterstellungen und einem gravierenden Denkfehler aus (sehen wir einmal von der Totalreduktion rundum erforderlicher Sozialpolitik auf Bildungsförderung ab – schon dieses ein Unfug, der nahelegen würde, das Sozialministerium abzuschaffen und stattdessen lediglich das Bildungsministerium noch seine Arbeit machen zu lassen!):

Erstens: Logische Voraussetzung dieser Aussage ist (und damit der latente Vorwurf an die Adresse der Erwerbslosen!): die betroffenen Menschen hätten aufgrund fehlender Bildung (bzw. Qualifikation) ihre Arbeit verloren. Wieder einmal: die Hartz-IV-EmpfängerInnen seien selber Schuld an ihren Arbeitsplatzverlusten. In einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion müssen demnach die Nokia-MitarbeiterInnen – damals, im Frühjahr des Jahres 2008 – schlagartig ihre Kompetenzen verscherbelt haben und dadurch ihre Jobs. Blanker Unfug!

Zweitens: Ausschließlich aufgrund mangelnder Weiterbildungs- bzw. Neuqualifizierungsbereitschaft kämen die Erwerbslosen der Bundesrepublik zu keinem neuen Arbeitsplatz. Schlichte Lüge!

Drittens: Bei einem umfassenden Bildungsprogramm für die Betroffenen – vielleicht auch mit den entsprechenden Zwangsmaßnahmen versehen? – würden alle Erwerbslosen wieder einen neuen Job ergattern können. Dies der gravierende Denkfehler und eine einzige Irreführung zudem! Denn:

Ein derartiges Selbstoptimierungsprogramm würde – bildlich gesprochen – zwar alle ALG-Zweier dazu befähigen, besser trainiert auf die Ziellinie neuer Arbeitsplätze draufloszusprinten. Aber an der Ziellinie würde kein einziger neuer Arbeitsplatz auf die abgehechelten WettbewerberInnen warten. Wieso auch? Wir hätten zwar – im ‚Erfolgsfall’ – ein womöglich bedeutend besser qualifiziertes Arbeitslosenheer, aber kein um auch nur einen Prozentpunkt verkleinertes Arbeitslosenheer! Die Erwerbslosen hätten sich zwar wie die Verrückten abgestrampelt bei diesem Wettlauf um die Arbeitsplätze, doch kein einziger Arbeitsloser mehr käme durch dieses angestrengte Selbstoptimierungsprogramm zu einem neuen Arbeitsplatz. Merkels Formulierung aus dem Frühherbst des Jahres 2008 – wenige Monate nach den Massenentlassungen bei Nokia in Bochum -, lief also de facto auf das zynische Bekenntnis hinaus: „Wohlstand, das ist für mich, Angela Merkel, materielles Elend plus prima Qualifikation!“ – Schon damals war dieses scheinbar so menschenfreundliche Politikprogramm nichts anderes als Schaumschlägerei.

Selbstoptimierungskonzept – eine blanke Lüge
Das Problem der millionenfach vernichteten Arbeitsplätze in der Bundesrepublik wird mit dieser neoliberalen Propaganda-Variante verschoben auf das dafür völlig irrelevante Problem angeblich existierender Bildungsmängel im riesigen Arbeitslosenheer. Und besonders zynisch bei dieser Phrasendrescherei: gleichzeitig wird damit vertuscht, dass ausgerechnet der Warenkorb ‚Bildung’ bei der Festlegung des ALG-II-Regelsatzes aus der Kostenliste rausgekürzt worden ist. Gerade der heutige „Sozialstaat“ Bundesrepublik hat mit dieser Hartz-IV-Gesetzgebung aufgehört, noch eine „Bildungsrepublik“ zu sein. Folge:

Ein weiteres Mal sind mit dieser Propaganda die wahren Arbeitsplatzvernichter aus dem Schneider, und ein weiteres Mal zeigt die Politik den Opfern dieser neoliberal verursachten Katastrophensituation auf dem deutschen Arbeitsmarkt damit nur scheinbar einen weißen Fuß (gibt es da nicht das Märchen, wo der Wolf Kreide gefressen hat…?)

Apropos: die Kanzlerin wurde damals im September 2008 mit heftigem Beifall gefeiert für ihre ‚menschenfreundliche’ Propagandarede, und zwar von CDU und CSU wie SPD (was vermutlich ein Bildungsproblem ganz woanders zeigt: bei diesen begeistert applaudierenden Abgeordneten!). Die Erwerbslosen in der Bundesrepublik haben damit aber ein weiteres Mal von ‚ihrer’ Regierung erfahren dürfen, dass in Wahrheit nichts, aber auch gar nichts für sie getan werden soll. Kurz:

Mit diesem Selbstoptimierungsprogramm für die Arbeitslosen wird der Öffentlichkeit wiederum nichts anderes als Betrugspropaganda vorgelegt, Gequatsche statt echter, eingreifender, hilfreicher, das Übel bei der Wurzel packender Sozialpolitik. An der immer mehr sich verschärfenden Elendssituation der Arbeitslosen wird sich durch dieses Gefasel nichts ändern, auch durch Realisierung dieses Gefasels nicht. Im Gegenteil: Noch häufiger als bisher wird den ALG-II-BezieherInnen Faulenzerei, Bildungsmangel und anderes vorgeworfen werden. Und wieder und wieder werden die ‚Kleinen Leute’ alleingelassen von der skizzierten Ganz Großen Koalition. An die Stelle echter Hilfe wird ihnen nichts anderes um die Ohren gehauen als ein latenter Schuldvorwurf, nichts anderes als sprachliche Trickserei und Politik-Ersatz!

Bin ich demzufolge Gegner einer Bildungspolitik, die Kindern aus der „Arbeiterschicht“ gleiche Zutritts-Chancen zu den bundesdeutschen Universitäten eröffnen soll wie den Sprösslingen aus Akademikerhaushalten? Bin ich damit überhaupt und ganz generell gegen Bildungspolitik? – Selbstverständlich nicht! Ich bin lediglich dagegen, die Gleichheit der Chancen verkaufen zu wollen als ein Gleichstellen der Menschen auch in der Realität und als vermeintlich humanen Ersatz für eine wirklich hilfreiche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Die promovierten Taxifahrer in Göttingen jedenfalls haben nichts davon, daß sie womöglich aus der „Arbeiterschicht“ aufsteigen konnten in diese famose Position: nämlich hinter dem Lenkrad zu sitzen und auf dem Bahnhofsvorplatz der niedersächsischen Universitätsstadt auf Kunden warten zu dürfen – zum Beispiel auf ihren Doktorvater, der gerade zurückkommt von einem wissenschaftlichen Kongress, der sich mit dem Thema „Bildung“ befasst hatte. Sagen wir: in Cambridge, etwa 80 Kilometer von der britischen Hauptstadt London entfernt – einer der Hauptzentralen des globalisierten Neoliberalismus. (hp)

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