Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf Nachteilsausgleiche am Arbeitsplatz. Dazu gehören zusätzliche Urlaubstage (§ 208 SGB IX), ein besonderer Kündigungsschutz (§ 168 ff.), das Recht, Mehrarbeit abzulehnen (§ 207), eine ihren Bedürfnissen gerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes (§ 164 Abs. 4) sowie – falls behinderungsbedingt erforderlich – ein Anspruch auf Teilzeit oder verkürzte Arbeitszeiten (§ 164 Abs. 5), technische oder personelle Hilfsmittel (§ 164 Abs. 4 Nr. 4) und ein Vorzugsrecht bei der innerbetrieblichen Besetzung freier Stellen (§ 164 Abs. 1 S. 4).
Auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement (§ 167 Abs. 2) gehört zum Kanon der Schutzrechte. Eine vorgezogene Altersrente (§ 236a SGB VI) kann Betroffenen zwar ebenfalls zugutekommen, ist aber renten- und nicht arbeitsrechtlich geregelt.
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LAG Hamburg trifft wichtige Entscheidung
Zählt dazu auch ein Anspruch darauf, an welchem Ort die Betroffenen ihre Arbeitsleistung erbringen? Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat hierzu eine wichtige Entscheidung getroffen (Az. 5 Sa 107/12). Grundsätzlich behält der Arbeitgeber das Weisungsrecht über den konkreten Arbeitsort. Im Einzelfall kann jedoch eine Änderung des Arbeitsortes unter den Begriff der behindertengerechten Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 SGB IX (früher § 81 Abs. 4 SGB IX a. F.) fallen.
Dabei gilt: Der Anspruch besteht nur bis zur Zumutbarkeitsgrenze; der Arbeitgeber darf Maßnahmen ablehnen, wenn sie für ihn unzumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wären (§ 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX).
Panikattacken im Elbtunnel
Im konkreten Fall arbeitete der schwerbehinderte Arbeitnehmer als Verkaufsmitarbeiter eines Unternehmens mit Filialen für Bürobedarf. Der Betroffene wohnte in einer Ortschaft südwestlich von Lüneburg und wurde in eine Filiale eines Stadtteils in Hamburg nördlich der Elbe versetzt.
Er hätte mit dem Pkw auf seinem Arbeitsweg täglich über die Elbbrücken und durch den dichten Hamburger Berufsverkehr fahren müssen. Im öffentlichen Nahverkehr leidet er unter Angstanfällen.
Schwerbehinderung unter anderem wegen psychischer Störungen
Der Betroffene hat eine anerkannte Schwerbehinderung mit einem Grad von 90. Dabei sind laut Gericht folgende Funktionseinschränkungen aufgeführt: „Hörschwäche, psychische Störungen, Bewegungseinschränkungen des rechten Schultergelenks und des rechten Ellenbogengelenkes, Einschränkung der Gehfähigkeit bei Luftmangel und Minderbelastbarkeit des linken Beines, Migräne und Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Schmerzzuständen.“
Arbeitsplatz in der Nähe des Wohnortes
Er verlangte einen Arbeitsplatz beim selben Arbeitgeber in einer Filiale, die näher an seinem Wohnort lag und zu der er nicht durch den Berufsverkehr musste. Als Grund dafür gab er seine Angstsymptome an. Die Fahrt über die Elbbrücken mit dem Pkw sei hingegen wegen seines Bandscheibenschadens nicht zumutbar.
Er sagte aus, „die Filiale in L… sei von G… hingegen aus leicht zu erreichen. Die Beklagte könne und müsse für ihn einen Arbeitsplatz in L… freimachen.“ Der Arbeitgeber lehnte dies ab; deshalb ging der Betroffene erst vor das Arbeitsgericht. In der Berufung entschied das Landesarbeitsgericht Hamburg über den Fall.
Landesarbeitsgericht sieht die Klage als berechtigt an
Das Landesarbeitsgericht entschied zu seinen Gunsten. Zwar entscheidet auch bei schwerbehinderten Arbeitnehmern grundsätzlich der Arbeitgeber über den Arbeitsort. Doch im Einzelfall komme hier § 164 Abs. 4 SGB IX zum Tragen. Dieser formuliert den Anspruch der Betroffenen auf eine behindertengerechte Beschäftigung.
Änderung des Arbeitsortes kann behindertengerechte Beschäftigung bedeuten
Zwar bedeute dies primär eine auf die Behinderungen angepasste Gestaltung des Arbeitsplatzes und der ausgeübten Tätigkeiten. Im Einzelfall kann aber auch eine Änderung des Arbeitsortes unter diesen Paragrafen fallen.
Psychische Belastungen machen wohnortnahe Beschäftigung erforderlich
Dies sei bei dem Betroffenen gegeben. Zwei psychiatrische Gutachten bestätigten, dass die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln bei ihm Angstzustände auslöse. Die spezifische Behinderung mache in diesem Fall eine wohnortnahe Beschäftigung erforderlich.